Dankesrede – Rom, 19.11.2010

Deutschland

Manfred Brauneck

Balzan Preis 2010 für Geschichte des Theaters in all seinen Ausdrucksformen

Für seine umfassende Darstellung von zweieinhalb Jahrtausenden europäischer Theatergeschichte sowie für seine Forschungen über Strömungen und Fakten weltweiter Ausprägungen theatralischer Aktivitäten.

Herr Staatspräsident,
sehr geehrte Mitglieder der Balzan Stiftung,
meine Damen und Herren, 

Die Verleihung dieses hochangesehenen Balzan Preises empfinde ich als eine außerordentliche Ehrung meiner Person. Ich sehe darin vor allem aber eine Auszeichnung meiner wissenschaftlichen Arbeit. Dies erfüllt mich mit der allergrößten Dankbarkeit gegenüber der Balzan Stiftung und dem Preisverleihungskomitee, das mich dafür ausgewählt hat. Es ist dies offenbar ein Ereignis, daß das Leben eines Wissenschaftlers von einem Tag zum andern zu verändern scheint, nicht zuletzt die Wahrnehmung, die man seitdem von außen erfährt. Zu Dank verpflichtet bin ich aber auch meinen Mitarbeitern am Zentrum für Theaterforschung an der Universität Hamburg, die mich in den beinahe zwei Jahrzehnten, in denen das Schreiben der „Geschichte des europäischen Theaters“ den Schwerpunkt meiner Arbeit ausmachte, so beharrlich unterstützt haben. Ich bin besonders glücklich darüber, daß die Balzan Stiftung einem Wissenschaftsbereich diese große internationale Anerkennung hat zukommen lassen, der nicht unbedingt zum etablierten Fächerkanon der Universitäten gehört. Und dies obwohl das Arbeitsgebiet, der Gegenstand, um den es geht, das Theater in allen seinen vielfältigen Erscheinungen und seiner überaus reichen und langen Geschichte, ein so wesentlicher Bestandteil europäischer Kultur ist. In seinem attischen Ursprung gar war das Theater die überzeugendste, die schönste öffentliche Manifestation unseres demokratischen Gesellschaftsmodells. Die Athener Polis, die Versammlung von mehr als 14’000 Menschen im Dionysos-Theater zu Athen – und seitdem in fast ununterbrochener Folge Menschen im „alten Europa“ – verständigten sich mit Hilfe der Institution Theater immer wieder über jene Grundwerte, die ihre Gesellschaft zusammenhalten. Was Europa ausmacht, hat das Theater immer schon erkannt und dies in Zusammenarbeit und kreativem Austausch über alle Grenzen hinweg verwirklicht. Dabei haben sich nationale, oft gar regionale Prägungen und europäische Traditionen gegenseitig inspiriert. In einer globalisierten Welt ist der Bedarf, sich dieses Zusammenhangs zu vergewissern, größer denn je. Dabei ging es zu keiner Zeit darum, daß die alten Göttererzählungen, die die Menschen über die Jahrhunderte hin auf der Bühne verfolgten, so wenig wie heute Geschichten und Bilder, die vom Leben in unserer Zeit berichten, daß diese etwa die Antworten parat hätten auf jene Fragen, die die Menschen bewegten. Es ist vielmehr das unerschöpfliche Potential an Fragen, das den Erzählungen, die auf der Bühne vergegenwärtigt werden, immanent ist. Die Antworten auf diese Fragen muß sich jede Generation neu erarbeiten. Es ist immer auch ein Weg vom Eigenen weg, zum Fremden, zum Anderen hin und von dort wieder zum Eigenen zurück. Unübersehbar aber sind Entwicklungen, die diese humane Kondition des Theaters zunehmend gefährden. Es wird die Aufgabe einer europäischen Kulturpolitik sein müssen, den Menschen diese Erfahrungsmöglichkeiten in aller ihrer Vielfalt zu erhalten. In meinen Forschungsarbeiten habe ich versucht, dieses Zusammenspiel von Bühnengeschehen und seiner Rezeption an Theaterentwicklungen in sehr unterschiedlichen Zeiten zu untersuchen; immer auch ausgehend von einem Theaterverständnis, das in viele Richtungen hin offen ist. Gewiß sind die ideologisch schwergewichtigen Ereignisse großer Bühnenkunst gleichsam die Leuchttürme in der Geschichte des europäischen Theaters. Doch sind die künstlerischen Hochleistungen nicht immer die zwingenden Voraussetzungen für die Funktion des Theaters in der Gesellschaft. In Ländern an der europäischen Peripherie etwa wurden im 19. Jahrhundert die ersten Aufführungen einer Oper oder eines Schauspiels in der Landessprache – auch wenn dabei Amateure auf der Bühne standen – als Manifestationen nationaler Autonomie begeistert gefeiert. Heute tragen Theatergruppen von Migranten dazu bei, daß sich Menschen in einer für sie fremden Gesellschaft ihrer Identität versichern. Sie tragen aber auch zur kulturellen Vielfalt in den Ländern bei, in denen sie leben und arbeiten. Mit dem Balzan Preis verbunden ist die Möglichkeit, ein größeres Forschungsprojekt zu realisieren, für das der Preisträger die Ziele vorgibt. Der Dank dafür kann nicht groß genug sein in einer Zeit, in der gerade für kulturwissenschaftliche Forschungsprojekte die Finanzierung so schwer geworden ist. Gegenstand dieses Forschungsprojekts sollen jene Entwicklungen sein, die am Ende des 20. Jahrhunderts zu gravierenden Veränderungen in der europäischen Theaterkultur geführt haben: zur Überprüfung ihrer Grundlagen, zur Erweiterung ihrer Strukturen, auch zur Öffnung gegenüber anderen Theaterkulturen. Initiiert wurde diese Entwicklung vor allem von einer internationalen Bewegung Unabhängiger Theatergruppen. Dabei wird es auch um die Frage gehen, welche Bedeutung dem Theater in allen seinen Formen und Erscheinungsweisen für die sich rasant verändernden Gesellschaften Europas zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch zukommt.

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