Frankreich

René Étiemble

Balzan Preis 1988 für Vergleichende Literaturwissenschaften

Dafür, dass er in seinen Forschungen und zahlreichen Abhandlungen die theoretischen Probleme der vergleichenden Literatur vertiefte und mit grosser intellektueller Redlichkeit die individuellen Qualitäten vieler bedeutender Autoren verschiedener Kulturen gebührend würdigte.

Unter den wissenschaftlichen Schriften von Étiemble (1909 – 2002) stechen von Anfang an einige mit aufschlussreichem Titel heraus: Rimbaud, Proust et la crise de l’intelligence, Le mythe de Rimbaud und schliesslich die mit Hygiène des lettres betitelte Buchreihe. Das ganze Schaffen Étiembles ist darin vorgezeichnet: Für ihn ist vergleichende Literaturwissenschaft untrennbar verbunden mit einem scharfsinnigen, feinen Verständnis für die moderne Dichtung, mit kritischer Intelligenz und Entmythisierung. Diese gehört in der Tat zu den unerlässlichen Voraussetzungen für jede saubere wissenschaftliche Untersuchung. Sie entfernt sich von scheinbar tiefem Denken, vermeidet die Übertreibung, die immer verdächtig bleibt und sich hinter Verallgemeinerungen verbirgt. Étiemble dagegen, spürt dem konkreten Detail nach, das den Sinn des untersuchten Textes deutlich macht.
Dies erlauben Étiemble verschiedene Fähigkeiten, die man in all seinen Büchern findet. Unter ihnen ist die gleichsam materiellste seine Gabe der – wie man es nennen könnte – Aligegenwart. Étiemble verfügt nicht nur über ein grosses Buchwissen, seine Kenntnisse beruben auch auf eigenen Erfahrungen in den Vereinigten Staaten, in Südamerika, in China und im Nahen Osten, Länder, in denen er oft Vorlesungen hielt und deren Sprachen er beherrscht. Es gibt wohl keine bessere Voraussetzung für einen Komparatisten, dessen Universitätskarriere der Forschung dient; denn diese zieht unmittelbar Nutzen aus den Weltreisen des Gelehrten. Es kommt dazu, dass Étiemble auch in Paris in literarischen Kreisen verkehrt. Er sucht surrealistische Gruppen auf und wird später Mitarbeiter der Temps modernes und der Nouvelle revue française. So hat er offenbar alle Autoren, über die er schreibt, persönlich kennengelernt. Das heisst nicht, dass er sich ihre Standpunkte zu eigen macht oder er jeden beliebigen Freund unterschiedslos bewundert. Seine intellektuelle Redlichkeit, seine aussergewöhnliche Unabhängigkeit – weitere Fähigkeiten, die ihn auszeichnen – schützen ihn vor Parteilichkeit und veranlassen ihn, vielmehr, bis ins einzelne auf die Differenzen hinzuweisen, die manchmal zu Verstimmung und Streit Anlass gaben. Von Natur aus polemisch veranlagt, lässt Étiemble seinen Gedanken und Empfindungen freien Lauf. Obwohl er die Komparatistik um ihrer selbst willen betreibt, dient sie ihn auch dazu, sich persönlich zu engagieren, um Rassenhass, Kolonialismus, Stalinismus und Antisemitismus zu verurteilen.
Der unbändige Eifer, mit dem er bestimmte Ideen verteidigt und andere verwirft, zeichnen ihn als grossen Gelehrten und Kritiker aus. Als Gelehrten, weil jedes Buch, jeder Artikel von Étiemble auf umfassender Vorarbeit beruht. Er muss Zehntausende von Karteizetteln zur Verfügung haben, um seine Auffassungen klar und deutlich auf wenigen Seiten von ausserordentlicher Dichte auszudrücken. Er vermag dieses Quellenmaterial, das seine grosse Gelehrsamkeit zeigt, mit literarischem Leben zu beseelen, das den Leser in Bann zieht und Étiemble auch als bedeutenden Schriftsteller ausweist. In seinem Werk verbindet sich Literatur und Kritik.
In all seinen Schriften, in den zahlreichen kritischen Studien wie auch in seinen Betrachtungen über die Reinheit und den Niedergang der Sprache ist Étiemble der Repräsentant par excellence eines modernen Humanismus, der mir einer leidenschaftlichen Geduld die Grösse und die Grenzen der menschlichen Existenz aufzeigt. Und überall ist die Komparatistik, der er so beachtliche Dienste erwiesen hat, das unentbehrliche Instrument.

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