Rhapsodische, Unausgewogene Gedanken über Musik, besonders über meine eigenen Kompositionen – 15.11.1991 (German)

Hungary/Austria

György Ligeti

1991 Balzan Prize for Music

For his work, which, starting with the great Hungarian tradition, has had a vast innovative effect on today’s musical language. His compositions, written for a wide variety of ensembles, have marked important events in contemporary art. For his meticulous attention to the possibility of using rhythm and timbre, he has created an original and fascinating universe of sound.

So verschieden die Kriterien für die Künste und die Wissenschaften auch sind, gibt es insofern Gemeinsamkeiten, als die Menschen, die in diesen zwei Bereichen arbeiten, von Neugier angetrieben werden. Es gilt Zusammenhänge zu erkunden, die andere noch nicht erkannt haben, Strukturen zu entwerfen, die bis dahin nicht existierten. Daß dabei die Wissenschaftler von beobachteten Fakten ausgehen, während die Künstler Welten gleichsam aus dem Nichts erschaffen, stimmt nur eingeschränkt. Beruhen auch die experimentellen Wissenschaften zum Großteil auf Fakten, trifft dies für die ”präziseste” Wissenschaft, nämlich die Mathematik:, nicht zu, da in diesem Bereich mehr oder weniger willkürlich aufgestellte Spielregeln gelten.

Echte Spiele, wie etwa Schach, oder religiöse Riten gehören weder zur Wissenschaft noch zur Kunst. Doch gibt es in mehreren Künsten, so in der Musik:, Analogien zu den Spielen und Riten: die Verknüpfungsregeln haben sich allmählich, geschichtlich ausgebildet und werden vom jeweiligen kulturellen Kontext, als Konventionen, bedingt.

Auch zwischen den natürlichen Sprachen und der Musik gibt es Analogien, ‘manchmal auch Überlappungen. Ist eine mathematische Struktur mehr oder weniger konsistent, gilt für die natürlichen Sprachen die Bedingung der Konsistenz nicht, sie bilden vielmehr lückenhafte Systeme. Ähnlich lückenhaft sind die verschiedenen musikalischen Grammatiken.

In der europäischen kulturellen Tradition neigen wir dazu, zwischen Sprache und Musik scharf zu unterscheiden. In ihrer akustischen Erscheinung sind die Phoneme, vor allem die Konsonanten, stark geräuschhaft, haben also aperiodische Schwingungsformen. Unter ”musikalischem Klang” versteht der Europäer vor allem Klangspektren aus überwiegend periodischen Schwingungen – das gilt aber nicht für alle Kulturen.

Überhaupt bedeutet der Begriff ” Musik:” in verschiedenen Kulturen oft Verschiedenes, deshalb ist die häufig gestellte Frage “Was ist Musik?” nur vom Kontext abhängig zu beantworten. In den Bantu sprechenden Kulturen, in denen die Tonh6he semantische Funktion hat, kann man mit Musik “sprechen”. In diesen Kulturen ist “Musik” kein gesonderter Begriff, entweder fällt sie mit der Sprache zusammen oder mit Mustern aus sich verändernden Muskelspannungen (im Tanz und im Instrumentalspiel). Chinesisch und Vietnamesisch sind ebenfalls Intonations-Sprachen wie Bantu, doch verhalten sich in diesen zwei asiatischen Kulturen die Bereiche “Sprache” und ”Musik” anders zueinander: in gesungenen Texten muß zwar die Melodie der sprachlichen Intonation folgen, doch sind Musik und Sprache getrennte, aus verschiedenen Traditionsketten stammende kulturelle Muster.

Wenn man versucht, die Musik als eine akustische Kunstgattung zu definieren, stöbt man auch auf Schwierigkeiten. Wohl sind Schallwellen, al­ so periodische oder aperiodische Luftdruckschwankungen Träger von Musik, aber die Musik ist qualitativ auf einer anderen Ebene angesiedelt als auf der akustischen. Als Model) kann der Qualitätssprung Pixel/Bild dienen. Farbige Punkte oder Bildelemente blitzen auf und erlöschen am Fernsehschirm, doch sie verlassen nie ihren Platz. Die starren Pixel sind die Träger des beweglichen Bildes, das Bild auf dem Fernsehschirm existiert aber als Supersignal auf der nächsthöhen Wahrnehmungsebene.

Eine natürliche Sprache als akustische Sequenz verhält sich anders zur Schrift, also zur optischen Notation, als die erklingende Musik zur notierten. Eine vertraute Schrift, wie die lateinische, können wir stumm lesen, wir verstehen den Inhalt auch ohne die Vergegenwärtigung der akustischen Erscheinung. Das ist eine Frage van Bildung, also Routine, Ungebildete lesen laut. Doch eine mehrstimmige notierte Musik ist von einem Leser “laut” nicht darstellbar, und “leise” bleibt sie eine Abstraktion. Die musikalische Notation ist ein Code, der zwischen dem Komponisten und dem Interpreten vermittelt, nicht zwischen dem Komponisten und den Hören.

Die in Europa seit etwa vier Jahrhunderten benützte musikalische Notation in Fünfersystemen, Tonhöhen, Notenwerten und Taktstrichen ist relativ neu. Noch im europäischen Mittelalter wurden Neumen verwendet, die bloß die Richtung der melodischen Bewegung angaben, die Tonhöhen nur andeutungsweise und den Rhythmus gar nicht, obwohl die Musik auch damals aus definierten Tonhöhen und rhythmisch metrischen Strukturen bestand. Es wurden mehr Informationen oral vermittelt, als es in der heutigen Musikkultur der Fall ist.

Auch beute gilt im Bereich des Jazz hauptsächlich die orale Vermittlung auf Grund van stilistischen Gewohnheiten. Mehrere außereuropäische polyphone Traditionen, so die georgische Polyphonie im Kaukasus und die pygmäische im afrikanischen Regenwald werden ausschließlich oral weitergegeben, obwohl sie kaum weniger komplex sind als die großen europäischen polyphonen Traditionen.

Wir wissen nicht, warum in einigen Kulturen sich die musikalische Struktur in Richtung Polyphonie entwickelt hat, in anderen nicht. Die polyphonen Kulturen (außer in Europa auch in der südlichen Hälfte Afrikas, in Neuguinea und Melanesien), so großartig sie auch seien, sind keineswegs reicher als die bedeutenden einstimmigen oder heterophonen Kulturen, wie etwa die nordindische oder die islamische. Die rhythmische Struktur und auch die Intonation sind z.B. in der islamischen Musik wesentlich facettenreicher, raffinierter als in der europäischen. Ohne die besondere Musiksprache gelernt zu haben, ist für einen Europäer der Reichtum der feinen Akzentverlagerungen und Mikrointervalle in der islamischen Musik nicht zugänglich.

Im Bereich der Metrik, das heißt in der Verteilung der Akzente, denkt der Europäer vor allem in symmetrischen Gruppierungen. Seit dem späten 16. Jahrhundert haben sich Takte, Taktlinien, “schwere” und “leichte” Taktteile etablier. Das führte zu einer Unifizierung der Metrik. Früher, im 14. und 15. Jahrhundert, war die europäische Musik zwar auch metrisch gegliedert, doch konnten in verschiedenen Stimmen verschiedene Metren koexistieren. 0ft war die Metrik zweideutig durch Hemiolenbildung (das heißt durch die schillernde Simultaneität von 6=2+2+2 und 6=3+3). Hingegen sind in den balkanischen und anatolischen Musikkulturen die metrischen Verteilungen oft asymmetrisch, und das gilt auch für den gesamten Maghreb. Statt Dreier- und Vierer-Metren gibt es am Balkan auch Fünfer-, Siebener-, etc. Metren, also 3+2, 4+3, etc., und auch Aufteilungen einer Einheit in nicht genau meßbare, mitunter irrationale Brühe. Der griechische Musikwissenschaftler Thrasybulos Georgiades führte diese asymmetrische Metrik auf die Eigenheiten der antiken griechischen Versmaße zurück- . Andere Wissenschaftler, so der Rumäne Constantin Brăiloiu, der das Phänomen mit dem türkischen Wort für Hinken “Aksak” bezeichnete, bevorzugen die Ableitung dieser Rhythmen aus motorischen Gestalten, z.B. aus asymmetrischem Stampfen, und nicht aus sprachlichen Akzentverteilungen.

Ähnliche, und doch in ihrer Erscheinung anders wirkende Asymmetrien kommen in einigen lateinamerikanischen Tanzmusiken vor, in Gegenden, in denen die aus Afrika stammenden Schwarzen leben. So findet man in der kubanischen Rumba sowie in einer Anzahl anderer karibischer Tänze Achtertakte, aber asymmetrisch gegliedert (z.B. 8=3+3+2), mitunter auch Zwölfertakte (z.B. 12=4+3+2+3). Die ursprünglichen afrikanischen Modelle – sowohl vom Golf van Guinea, also von der Meeresküsten, als auch vom ganzen Binnenland in der südlichen Hälfte Afrikas – kennen aber nicht den Begriff von “Takten”. In all diesen afrikanischen Musikkulturen verlauft das rhythmische Geschehen auf drei getrennten Ebenen: es gibt große Einheiten, Perioden, die immer gleichlang wiederkehren; in der mittleren Ebene sind diese Perioden asymmetrisch geteilt, und in der untersten Ebene gibt es eine sehr schnelle gleichmäßige Pulsation (im Extremfall 12 pro Sekunde), die nicht gespielt, nur gefühlt wird. Die mittlere, asymmetrische Ebene läßt sich auch gleichmäßig ausfüllen, z.B. durch gleichmäßiges Händeklatschen, doch wird das meist nicht realisiert, bleibt implizit. Wenn ausgeführt, dann fallen einzelne Schläge zum Teil in die Lücken zwischen den tatsächlich gesungenen oder gespielten Tönen.

Gerhard Kubik hat im Königreich Buganda (im südlichen Teil Ugandas) mehrstimmige Xylophonmusik aufgenommen, in der die schnelle Pulsation – obwohl von den einzelnen Spielern nicht gespielt – hörbar ist, durch die verschobene Simultaneitat zweier melodischer Sequenzen: die Verzahnung (“interlocking”) der zwei Abläufe in Phasendifferenz ergibt für unsere Hörwahrnehmung eine einzige superschnelle Sequenz, bis zur Metronom­ zahl 600 und darüber. Ähnliches gibt es durch die Übereinanderschichtung zahlreicher hoquetus-artiger, d.h. zerhackter, diskontinuierlicher Einzelstimmen in der zentralafrikanischen polyphonen Orchestermusik (z.B. bei den Banda-Linda, aufgenommen von Simha Arom).

Es könnte zutreffen, daß die Metrik, also die Verteilung der Akzente, nicht nur von Tanzformen oder anderen motorischen Mustem abhängig ist, sondern, wie das Georgiades interpretiert, auch von gesprochenen Sequenzen. Was Adorno in der europäischen Klassik und Romantik als “sprachähnlich” beschreibt – eminent iii der Instrumentalmusik von Beethoven – kann mit dem akustischen Duktus der deutschen Sprache (in Wort­ und Satzakzentuierung) deckungsgleich empfunden werden. Das bezieht sich auch auf einige andere europäische Sprachen, in denen die Akzente auf verschiedene Silben oder Wortteile fallen, also auch auf die italienische, ob­ wohl eine Melodie Bellinis grundsätzlich anders strukturiert ist als eine von Beethoven oder Schubert. Anders verhält es sich mit dem Französischen und Englischen. Wegen den vielen zweisilbigen Wörten ist die englische Sprache rhythmisch biegsam und kamäleonhaft veränderbar, deshalb für Jazz und Pop besonders geeignet: Synkopierungen lassen sich leicht sprachlich herstellen. Das Französische ist hingegen extrem rigid: die letzte Silbe des Wortes oder der Wortgruppe wird stark betont und auch gedehnt. Die anfänglichen -Rezeptionsschwierigkeiten der Musik von Debussy und Ravel im germanischen Sprachraum und diejenigen von Richard Strauss und Mahler, auch Bruckner, im französischen wurden vielleicht durch diese Eigenheiten der Sprachen mitverursacht.

Noch rigider als Französisch sind Tschechisch und Slowakisch, doch auf entgegengesetzte Weise: der Wortanfang (auch der bestimmte Artikel als Präfix) wird stark akzentuiert, und die Akzente bedeuten keine Dehnung wie in den sonstigen indoeuropäischen Sprachen; sie können lang aber auch ganz kurz sein. Die Opern von Janáček, wunderbare Werke im tschechischen Original, wirken in Obersetzungen oft unfreiwillig komisch.

In meiner nicht-indoeuropäischen Muttersprache, im Ungarischen, sind ebenfalls die ersten Silben (mitunter auch die fünften) akzentuiert, aber weniger hart als im Tschechischen. Die Monotonie des Ungarischen wird vor allem von der Vokalharmonie verursacht. Etwas “flacher” als im Ungarischen sind die Akzente im verwandten Finnischen, noch flacher im (nicht-verwandten) Japanischen. Diese ”Flachheit” der japanischen Akzentverteilung läßt wiederum einen großen Reichtum der Stilisierung in der Intonation zu: die Sprachmelodie in den traditionellen japanischen Theatergattungen wie NO und Kabuki ist von einer stilisierten Expressivität, wie es in den europäischen Sprachmelodien undenkbar wäre.

Eine Eigenheit der europäischen Tradition sind die Klauselbildungen: stereotype melodische Wendungen (meist Leitton zu Finalis) am Ende von Phrasen. Diese Neigung zu festen Klauseln war um 1200, in der Notre­ Dame-Zeit, noch nicht ausgeprägt, doch wuchs sie allmählich während den nächsten 200 Jahren von Perotinus bis Machaut und Ciconia; ab Dufay, also ab 1450 wurde sie beherrschend. Die Ausbildung der Tonalität ist eine eminent europäische Erscheinung und wurde von der Klauselbildung bedingt: der zur Finalis strebende Leitton wird als große Terz eines “Dominantakkords” aufgefaßt, die darauf folgende Finalis bildet den Grundton des Tonikadreiklangs. Auf diese Weise wurde die Klausel “Leitton-Finalis” zur mehrstimmigen tonalen Kadenz ergänzt. In der späteren Entwicklung (etwa ab I600) konnte jede Dreiklangterz zum Leitton erhöht werden; das führte zum System der Nebendominanten und zur Modulation.

Die europäischen Komponisten, bei denen die Tonalität, also die Kadenzbildungen aus Dominantakkorden und die Modulationen aus Neben­ Dominantakkorden in der perfektesten Balance und in der puresten Form erscheinen, sind Haydn und Mozart. Bei Bach war die Balance noch prekär, Modulationen stammten noch oft von “gewaltsam verbogenen” melodischen Formeln, bei Schubert wiederum ist die Alleinherrschaft der tonalen Kadenz wegen den häufigen Terzrückungen in den Grundtönen der Akkorde geschwächt.

Dafür war aber die Musik: Bachs – und noch deutlicher Vivaldis – in der rhythmisch-metrischen Artikulation ausbalanciert. Die Bach-Söhne, dann die Mannheimer, und vollends Haydn haben die “barocke” Kontinuität zerstört. Haydns so perfekte tonale und modulatorische Gebilde sind vollkommen außer Balance in ihrer rhythmischen Artikulation: die rhythmischen Gestalten kontrastieren in der selben thematischen Gruppe.

Spätestens seit Chopin ist die Modulatorik, die Rolle der Nebendominanten, so wuchernd, daß sich der feste tonale Rückgrat auflöst. Das erste atonale Stück der Musikgeschichte ist vielleicht der Prestissimo-Schlußsatz der Chopinschen b-moll-Sonate.

Zu Wagner nur ein Schritt. War Wagner noch tonal? Im Tristan etwa? Es gibt da fast nur noch Nebendominanten, alles ist so extrem tonal organisiert, daß die Tonalität als Gerüst verschwindet. Die Konsequenzen lassen sich bei Reger, Richard Strauss, Skrjabin, Schönberg finden.

Debussy ging den entgegengesetzten Weg: bei ihm gibt es kaum noch Kadenzen, kaum noch Nebendominanten oder Leittonbildungen. Wagner hat die Tonalität durch Überhäufung zerstört, Debussy durch Aussparung. Auch die “Vorwärtsrichtung” des tonal-harmonischen Geschehens hat Debussy abgeschafft: seine Klavierstücke “Les cloches à travers les feuilles” und “Pagodes”, sein Orchesterstück “La mer” zeigen Einflüsse der javanischen und balinesischen Gamelanmusik. Südostasien, mit einer nicht-kadenzierenden musikalischen Konzeption, bedeutete für Debussy eine aähnliche Befreiung wie die japanischen Stiche für die Malerei Van Goghs. Am radikalsten verfuhr Debussy in seinem Ballett “Jeux”: der Formverlauf ist “vegetativ”, wuchert, aber entwickelt sich nicht. Strawinsky führte diese Formidee weiter mit der kontrastierenden Juxtaposition geschlossener Blocke, mit musikalischen Collagen, film-artigen “cuts”, besonders seit seiner ”SymphonieS pour instruments à vents”.

In meiner Jugend war ich van der Beethovenschen Formkonzeption Bartöks beeinflußt und hatte keine Ohren für die Debussysche Form. Schon als Kind stellte ich mir neue Musikstücke vor, beim Einschlafen, beim Spazierengehen, Musik, van Anfang bis Ende, wie sie auf Schallplatten erklingt (als einziges Instrument hatten wir zu Hause ein Grammophon). Ich dachte, alle Kinder stellen sich Musik vor. Als es sich viel später herausstellte, daß das nicht immer der Fall ist, war dies einer der Gründe dafür, daß ich mir vornahm, später vielleicht Komponist zu werden.

Während meines Kompositionsstudiums dachte ich noch in den klassischen Kategorien van thematisch-motivischer Arbeit und van Durchführung, Debussy wurde in Budapest oft gespielt (Strawinsky selten), mir schien aber Debussy altmodisch und Bartók modern wegen der Anhäufung von kleinen Sekunden. Die Ideologie der Modernität war ein politischer Gestus des Protests gegen das Verbot der “entarteten Kunst” sowohl während der nationalsozialistischen als später der kommunistischen Diktatur. Debussy war genauso verboten wie Schönberg (und auch Bartók!), dennoch beschäftigte er mich zunächst weniger wegen seiner auf Terzschichtungen beruhenden Harmonik. Schönberg, Berg, Webern kannten wir nur vom H6ren­ sagen, ihnen haftete wegen ihrer Atonalität die Aura des am meisten verbotenen an und wurden dadurch zu Helden.

Erst um 1950, als 27-jahriger junger Lehrer für traditionelle Harmonie und Kontrapunkt an der Budapester Musikhochschule, fing ich an, gegen Bartók und gegen die thematische Arbeit zu rebellieren. Ein Modell der nichtthematischen, ”nichtarbeitenden” Musik war das Vorspiel zu Wagners Rheingold (Schonbergs Farben-Stück kannte ich damals nicht). Wagners Rheingold-Vorspiel führte mich, durch den Umweg des Parsifal, zum Verständnis der Modernität der Debussyschen Formen. Die Statik dieser Formen verband sich in meiner Vorstellung mit Vibration und Irisieren.

Während meiner allmählichen inneren Loslösung von Bartók in der ersten Hälfte der 50er Jahre komponierte ich dennoch vorwiegend unter seinem Einfluß: die nicht-bartókschen statischen Musikformen konnte ich zunächst nicht notieren, ich war allzusehr im Takt-Denken verhaftet. 1956 schrieb ich dann meine erste “taktlose” Partitur, das Orchestersttück “Vfziók” (=Visionen). Es war nicht nur eine Musik ohne Metrik, auch Melodien, Rhythmen, Harmonien fehlten: es gab dafür chromatisch ausgefüllte Blöcke. Die interne Vibration entstand durch Interferenzmuster aus den Schwebungen der sich dicht gegeneinander reibenden Stimmen.

Ende 1956 verließ ich Ungarn und ging nach K6ln, um im Studio für elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks zu arbeiten. Obwohl ich das Komponieren mit elektronisch erzeugten Kliängen 1959 aufgab, waren für meine späteren orchestralen und vokalen Werke die Studioerfahrungen entscheidend. Es gab dort die Möglichkeit, komplexe Klangstrukturen aus einzelnen – aus Sinustonen gebildeten – Schichten zu montieren. (Für eine echte Fourier-Synthese war die Apparatur nicht geeignet, eher für additive Übereinanderschichtugn.) Das im Studio gelernte habe ich dann mit meinen kontrapunktischen Kenntnissen aus der Budapester Zeit kombiniert. Von den großen alten Meistern der Polyphonie hat mich damals vor allem Ockeghem beeindruckt; bei ihm gibt es stagnierende Strukturen, da sich die Einzelstimmen stets überlappen, ähnlich den sich überschlagenden Wellen. Meine Orchesterstücke “Apparitions” (1958-59) und “Atrnosphères” (1961), wie auch das “Requiem” (1963-65) bestanden aus vielschichtigen polyphonen Netzgebilden mit Interferenzmustern; diese irisierende Technik habe ich damals “Mikropolyphonie” genannt, “übersättigte Polyphonie” wäre noch adäquater.

Im weiteren Verlauf der 60er Jahre habe ich diesen Weg nicht mehr verfolgt: ich wäre in klischeehafte Wiederholungen geraten. Ich neige dazu, Künstler, die eine einzige Verfahrensweise entwickeln und dann lebenslang dasselbe produzieren, nicht so hoch einzuschätzen. In meiner eigenen Arbeit bevorzuge ich es, Verfahren immer neu zu überprüfen, zu modifizieren, eventuell wegzuwerfen und mit anderen Verfahren zu ersetzen. In den Wissenschaften, in der Grundlagenforschung, wirft jedes geloste Problem eine Unzahl neuer Probleme auf. In den Künsten, in denen ganz andere Kriterien gelten, gibt es keine Probleme, doch wohl Lösungen: verschiedene Vorstellungen und deren verschiedene Verwirklichungen.

Die Interferenz- und Strömungsmuster, mit denen ich in den späten 50er und frühen 60er Jahren gearbeitet habe, führten mich, sobald realisiert, zu ganz anderen Vorstellungen. Ich begann in die irisierenden Flachen allmählich rhythmische und melodische Sub-Muster einzubauen. In drei Jahrzehnten leitete mich dies zu Kornpositionen mit extrem vertrackter Polyrhythmik, etwa in meinem Klavierkonzert aus der zweiten Hälfte der 80er Jahre.

Nun habe ich keine feste Vorstellung, wohin das alles tendieren wird: ich habe keine endgültige Zukunftsvision, keinen Generalplan, sondern taste mich von Werk zu Werk in verschiedene Richtungen vor, wie ein Blinder im Labyrinth. Sobald ein weiterer Schritt erfolgt ist, ist er bereits Vergangenheit, und dann gibt es eine Vielzahl von denkbaren Verzweigungen für den nächsten möglichen Schritt.

Ist dieser nächste Schritt willkürlich? Die Frage betrifft auch den Wert eines Kunstwerkes innerhalb einer Kultur, das heißt innerhalb von geltenden Konventionen. Unterwerfe ich mich völlig der Konvention, ist mein Produkt wertlos. Stehe ich außerhalb jeglicher Konvention, sinnlos. Die Erneuerung der Künste bestand jeweils aus einer graduellen Modifikation des schon Existierenden. Turner etwa hat Landschaftsbilder von Claude Lorrain kopiert, dann die Himmel- und Wolkenhintergründe von Lorrain als alleiniges Material verwendet für seine atmosphärischen, aufgelösten Bildkornpositionen. Monet konnte aufgrund von Turners Neuerungen “Bewegung” malen, See, Bäume, Licht ohne zeichnerische Konturen, nur aus Farben. Cézanne hat die Monetsche Farbentechnik auf statische Raumgebilde übertragen: die Bewegung kommt zum Stillstand, obwohl die Konturen nur aus reiner Farbe bestehen und nicht zeichnerisch sind. Picasso hat wiederum – in seiner kubistischen Periode – Cézannes Statik und Tektonik zur geometrischen Stilisation modifiziert. Mondrian schließlich reduzierte diese geometrische Stilisation zu Fächenaufteilungen mit ”vibrierenden” Balkenstrukturen. Dieser Weg “von Lorrain zu Mondrian”, den ich hier skizziert habe, wurde aber von mir ganz willkürlich entworfen, beliebige andere Verkettungen wären aufzeigbar, es geht nicht um historische Notwendigkeit, sondern um “Schritte am Schachbrett”.

Was die Einbettung meiner eigenen Arbeit in die Tradition betrifft, habe ich bereits den Wechsel von der Vaterfigur Bartók zu Debussy geschildert. Mahler und die Wiener Schule waren für mich ebenfalls bedeutungsvoll, instrumentengerechtes Denken habe ich aber vor allem von Strawinsky gelernt. In meiner ”mikropolyphonen” Phase waren für mich die Niederländer des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts Vorbilder, doch während der 80er Jahre zog mich immer mehr die rhythmisch-metrische Komplexität der vorangegangenen Periode an, der Zeit der Mensuralnotation: ich begann mich mit der Musik von Machaut, Solage, Senleches, Ciconia, Dufay zu beschäftigen, und zog aus dieser Beschäftigung – indirekt, da es nicht um stilistische Einflüsse ging, sondern um technische Verfahren – viel Nutzen, so für meine Klavieretüden, mein Klavierkonzert und die “Nonsense Madrigals”, alles Werke aus der zweiten Hälfte der 80er Jahre. Das bedeutete für mich auch die Aufgabe der Mikropolyphonie zugunsten einer mehr geometrisch-zeichnerischen, rhythmisch “mehrdimensionalen” Polyphonie. Unter ”mehrdimensional” verstehe ich hier nichts Abstraktes, sondern die akustische Vortäuschung einer Raumtiefe, die im Musikstück selbst nicht objektiv vorhanden ist, aber in unserer Wahrnehmung gleichsam als ein stereoskopisches Bild entsteht. Zum ersten Male habe ich solche akustischen Illusionen im Cembalostück “Continuum” (1968) realisiert, und zwar beeinflußt von der Grafik von Maurits Escher. In neueren Stücken, wie in den Klavieretüden “Désordre”, “Automne à Varsovie” und “Vertige” manifestieren sich diese Illusionsmuster noch deutlicher; auch spielt der Pianist mit zwei Händen zum Schein in mehr als zwei verschiedenen Geschwindigkeiten.

Es gab da aber noch andere Einflüsse. Erstens meine Vorliebe für die Eleganz des Jazz und für den rhythmischen ”drive” der lateinamerikanischen (halb-kommerziellen) Folklore. Zweitens, seit 1980, meine Liebe für die Musik von Conlon Nancarrow, dessen polyrhythmische Pianola-Studien ich für einen Markstein in der Musik unseres Jahrhunderts halte. Drittens: ab 1983, und parallel mit meiner Beschäftigung mit der Mensuralnotation, meine Hinwendung zu verschiedenen außereuropäischen Musikkulturen, sowohl zu Hochkulturen als zu solchen der oralen Tradition. Ohne daß ich folkloristische Elemente übernommen hätte, war für mich das Studium der rhythmischen Technik verschiedener afrikanischer Musikkulturen südlich der Sahara entscheidend: ich kombinierte meine Erkenntnisse aus der Mensuralnotation mit jenen aus der “superschnellen” Pulsation der afrikanischen Musik. Diese Kombination ergab die kompositionstechnische Grundlage der Polyrhythmik und Polymetrik in meinen Klavieretüden und meinem Klavierkonzert.

Eine vierte Schicht ist auch vorhanden: Als ich 1961 mein Orchesterstück ”Atmosphères” komponiert habe, dessen ”Inhalt” aus Zustandsänderungen, Strömungsmuster und Turbulenzen besteht, hatte ich nicht die geringste Ahnung davon, daß genau zur selben Zeit Edward Lorenz am MIT die meteorologische Computersimulation bewerkstelligte, die zur Entdeckung der ” strange attractors” geführt hat, und daß die Turbulenzforschung und die Lehre der Dynamischen Systeme in den nächsten Jahren die Naturwissenschaften revolutionieren werden. Ich arbeite stets empirisch, nicht-mathematisch, nicht-wissenschaftlich, eher “handwerksmäßig”, aber in unbewußter Annäherung an geometrische Denkweisen. Bewußt wurde mir die ”in der Luft liegende” Parallelität zwischen den mathematischen Forschungen seit den 60er Jahren und meinen gleichzeitigen kompositorischen Bestrebungen erst 1984, als ich die ersten Computerdarstellungen der Julia-Mengen und der Mandelbrot-Menge sah, die Heinz-Otto Peitgen und Peter H. Richter angefertigt haben.

Trotz dieser Parallelität halte ich daran fest, daß ich “szientistisches”, pseudowissenschaftliches Komponieren als pure Ideologie ablehne (das bezieht sich aber nicht auf die computergenerierten Klänge! – im Gegenteil, die “Zukunft” des computergestützten Komponierens hat schon begonnen). Ich schrieb eingangs, daß Musik keine unbedingte Konsistenz haben muß im mathematischen oder formal-logischen Sinn. Selbst eine Bach-Fuge ist nur ein schein-logisches Gebäude: sie enthält zwar nichts Willkürliches, doch beruht ihre Stimmigkeit auf einer kulturell akzeptierten musikalischen Grammatik, die einer strengen, logischen Objektivität entbehrt. Wohl lassen sich einfache kontrapunktische oder harmonische Übungen, wenn man die stilistische Regel, also die Verknüpfungsmöglichkeiten der Elemente, genau spezifiziert, mit der Hilfe des Computers realisieren – das geschah schon seit den 50er Jahren – doch hält sich diese Formalisierbarkeit von Musik (vielleicht nur vorläufig, ich wage keine Prognosen zu stellen) in sehr engen Grenzen.

Vorläufig ist es auch eine Glaubenssache, ob man zur “strong” oder “weak” Artificial Intelligence neigt. Ich selbst hege die Hoffnung, daß die “strong”-Partei gewinnen wird, dann wird auch echte Computer-Musik m6glich sein, sie wird aber von den heutigen Formalisierungs-Träumen auf die Weise abweichen, wie die realen technischen Erfindungen von denen, die Jules Verne ersonnen hat. Daß die AI die Künste grundsätzlich verändern wird, ist nicht Zukunft, sondern heutige Realität, obwohl auf diesem Gebiet bis beute künstlerisch kaum mehr als Dilettantistisches erzeugt wurde. Das muß aber nicht so bleiben, und ist auch eine pädagogische Frage. Im Augenblick bedeutet eine vollwertige künstlerische oder technische Ausbildung, jede fi.ir sich, den vollen zeitlichen Einsatz für den jeweiligen Kandidaten, und im Bereich der Computer-Kunst dominiert das Ingenieurhafte. Sobald tatsächliche Künstlerpersonlichkeiten die notwendige Technik beherrschen werden, wird auch eine gültige “artifizielle Kunst” entstehen – ob dann die Computer-Musik oder “artifizielle Musik” noch etwas Gemeinsames mit den nach bisherigen kompositorischen Normen gültigen Gebilden haben wird. bleibe dahingestellt.

Ich kehre jetzt noch zum “bisherigen” Komponieren zurück, und zwar in der Form von stark subjektiven Betrachtungen. Ich neige dazu, “gute” und “nicht so gute” (oder “ungenügende”) Musik nach den Kriterien zu unterscheiden, ob der Komponist einfach niederschreibt, was ihm unmittelbar einfällt, oder – das wäre das Kriterium für gute Musik – ob er seine Skizzen so lange erneuert, sein Stück immer wieder beginnt, bis die “Zahnräder greifen’ ‘, also der Eindruck einer Stimmigkeit entsteht. Um welche Zahnräder es sich handelt und wann sie greifen, hängt vom kulturell-künstlerischen Kontext ab, in dem der Künstler lebt, und von der Höhe der Meßlatte, die der Komponist für das Niveau der eigenen Arbeit stellt. William Yeats hat diesen Sachverhalt wunderbar beschrieben (und für ein Gedicht trifft es ähnlich zu wie für ein Musikstück): “Ist’s like playing with the pieces of a jigsaw that has ultimately to fit into a box. All the time you are refitting the pieces together in different ways, until suddenly, inexplicably, they are inside and then the box snaps shut.”

Es gibt in der Geschichte der musikalischen Grammatiken glückliche Augenblicke, die einem Komponisten erm6glichen, spontane Einfälle so zu notieren, daß sie mit dem vollständig ausgearbeiteten “stimmigen” Werk zusammenfallen. Wegen des ausgereiften Zustandes der tonal-funktionalen Harmonik und der metrischen Satzperiodik war die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts so ein Augenblick – ich bezog mich bereits darauf in Zusammenhang mit der Musik von Mozart und Haydn. Bestimmt war Mozart – vielleicht durch genetische Gegebenheiten oder auch durch die günstige und strenge musikalische Erziehung, die er durch seinen Vater genossen hat – “erkoren” dazu, der größte Komponist der Musikgeschichte zu werden, doch wesentlich für sein Schaffen war auch der günstige historische Augenblick: nur auf dem schon vorbereiteten Humus der ausbalancierten und etablierten Tonalität konnte Mozart unmittelbar Perfektes erzeugen. Beethoven war kaum weniger genial (obwohl, gemessen an Mozart, seine Ausbildungs-Situation ungünstiger war), und in seinen späten Sonaten und Streichquartetten hat er auf eine andere Weise ebenso Großes geschaffen. Doch ist seine Perfektion mittelbar, der sich bereits im nicht mehr totalen Gleichgewicht befindenden Tonalität und Periodik wie mit Gewalt abgerungen.

Die historisch glückliche Zeiten einer Harmonie zwischen der musikalischen Sprache und dem Schaffenswillen des Komponisten sind heute vorbei: im heutigen musikalisch-kulturellen Kontext gibt es keine verbindliche Grammatik mehr. Bine allgemein gültige Grammatik zu verordnen wäre utopisch und totalitär: Sprachen, als kulturelle Muster, wachsen mehr oder weniger spontan durch die Geschichte hindurch – ·im Falle von Musik durch die Gehirne und Erzeugnisse der Komponisten und Komponistengenerationen -, sie entstehen, wie alle biologischen, sozialen und kulturellen Muster, im Prozeß einer Selbstorganisation. Die europäische funktionale Tonalität,  die – in modifizierten Formen – etwa von 1600 bis 1900 herrschte, war zweifellos die ”fitteste” der bisher vorhandenen musikalischen Grammatiken. Man kann ihr zwar nostalgisch nachtrauem, doch ihre künstliche Belebung – trotz zahlreicher ”postmoderner” ironischer Collagen, die heute als tonal-modische Accessoires von mehreren Komponisten erzeugt werden – will nicht wirklich gelingen (so scheint es mir jedenfalls). Ob sich aus dem heutigen musiksprachlichen Pluralismus irgendwann wieder eine allgemeingültige Syntax herauskristallisieren wird, lässt sich nicht voraussagen.

Geh0rte ich vor 30, ja sogar 20 Jahren noch mehr oder weniger zur Komponistengruppe, die sich als ”avantgardistisch” verstand, bindet mich heute keine Gruppenideologie mehr. Die avantgardistische Protesthaltung war ein politischer Gestus einer Elite. Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Utopie und mit der Veränderung der technischen Zivilisation durch die Verbreitung der Mikroelektronik ist auch die Zeit der künstlerischen Avantgarde vorbei. Da für mich die “sch0ne” Postmoderne als eine Schimare erscheint, suche ich nach einer “anderen” Modernität, weder nach einem “Zurück-zu”, noch nach modischem Protest oder “Kritik”. Sowohl die funktionale Tonalität als auch die Atonalität wurden abgenutzt, ebenso die gleichmäßige zwölftönige Temperatur. Viele ethnische Kulturen, in Afrika und in besonderer Vielfalt in Südostasien, geben Beispiele für ganz andere Intonationssysteme: sowohl die pentatonische als auch die heptatonische (gleichmäßige als auch ungleichmäßige) Aufteilungsmöglichkeiten der Oktave – von Thailand bis zum Salomon-Archipel – bergen unzählige Ansatzpunkte für eine neue Art von Tonalität in sich, mit anderen Gesetzmöglichkeiten als jenen der funktionalen. Deshalb scheint mir das Beispiel Java-Debussy so wichtig: Debussy hat den südostasiatischen Einfluß nicht als Folklorismus verwendet, sondern als grammatikalischen ParadigmenwechseL

Nachzudenken wäre auch über Anwendungen des Obertonspektrums. Henry Cowells Buch “New Musical Resources” war schon 1919 (!) fertig und wurde in den 20er Jahren ver0ffentlicht, dann schnell vergessen (heute gibt es ein Reprint im Something Else Press). Cowells Ideen betreffend die Naturt0ne wurden streng genommen nur von Harry Partch weiterent wickelt, doch sowohl Cowell als Partch blieben amerikanische Exzentriker und Randfiguren. Seit etwa 15 Jahren gibt es aber, vor allem in den U.S.A., aber mehr und mehr auch in Europa eine ”mikrotonale Bewegung’ ‘, die auf Partch zurückgeht. (‘ ‘Mikrotonal” ist nicht korrekt, es geht um natürliche Obertöne, sie bedeuten mikrotonale Intonationsabweichungen nur, wenn man die gleichmäßige Temperatur als Norm betrachtet.) Die Schwierigkeit der Durchsetzung dieser Richtung wurde dadurch bedingt, daß die von Partch gebauten Spezialinstrumente Raritäten blieben. Dramatisch hat sich die Situation seit der Existenz des ersten frei intonierbaren Synthesizers verbessert, dem Yamaha DX 7 Il (dessen Entwicklung ich John Chowning, dem Erfinder der digitalen Klangsynthese auf frequency-modulation-Basis, vorgeschlagen habe). Nur ist ein Synthesizer ein elektronisches Instrument und leidet unter den Einseitigkeiten der ausschließlich durch Lautsprecher ert0nenden Klänge.

Mein Projekt ist jetzt, neue Arten von Intonation (und von Tonalität) durch akustische Instrumente zu erzeugen, mit entsprechender Skordatur (d.h. Umstimmung, vor allem von Saiten) und mit Kombinationen aus “traditionell” und “verändert” gestimmten Instrumenten. Die reine Natur­ ton-Bewegung halte ich für eine ideologische Sekte, ähnlich jener der Natur­ kost-Anhänger. Mein Projekt ist ein ideologiefreier Stil, unsauber, wobei Obertöne, penta- und heptatonische, wie auch andere temperierte und nicht-temperierte Stimmungen pragmatisch zu einer Musiksprache amalgamiert werden, und zwar nicht nach einem allgemeinen Prinzip, sondern je nach den Gegebenheiten der einzelnen -Instrumente und der Instrumentenzusammensetzung des jeweiligen Stückes.

Ich habe hier ausführlich über meine eigenen Vorstellungen geschrieben, und habe keinen Anspruch darauf, daß andere Komponisten ähnlichen Phantasien nachgehen – jeder von uns hat andere Ideen, und es wäre vermessen zu behaupten, daß die eigenen den Vorzug hätten.

Was die Gesamtsituation betrifft, die von mir und von meinen Kolle­ gen: Wohl ist es mir bewußt, daß der heutige Komponist “ernster” Musik in einer winzigen kulturellen Nische lebt, eingekeilt zwischen der sich kommerziell ausbreitenden Unterhaltungselektronik und den Hochglanzfolien des traditionellen, prestigeträchtigen Konzert- und Opernbetriebs. ”Wir”, also die Komponisten ”ernster” Musik haben für das heutige Mäzenatentum (das “sponsoring”) nur einen Alibiwert, man braucht uns eigentlich nicht. Doch auch wenn die übriggebliebene Nische winzig ist und sozial scheinbar funktionslos, sie befindet sich gleichsam in der Haut einer Seifenblase: ihre Breite ist unendlich klein, ihre geistige Ausbreitungsmöglichkeit aber unendlich weit, solange die Seifenblase noch besteht.

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