USA

Jeffrey I. Gordon

Balzan Preis 2021 für Mikrobiom: seine Rolle in Gesundheit und Krankheit

Für die Begründung der Forschungsrichtung „Mikrobiom“ beim Menschen und das grundlegend neue Verständnis seiner Rolle für Gesundheit und Krankheit und auch für unseren Ernährungsstatus.

Wir sind nie allein. Die Revolution in der Genomforschung wirkt hier sozusagen wie ein Turbo. Immer klarer zeigt sich, dass wir eine sehr komplizierte Gemengelage aus menschlichen und mikrobiellen zellulären und genetischen Bestandteilen sind, die normalerweise für beide Seiten vorteilhaft zusammenarbeiten. Unsere mikrobiellen Partner umfassen Mitwirkende aus allen drei Domänen des Lebens, die wir auf der Erde haben (Bakterien, Archaeen und Eukaryoten) sowie deren Viren. Schon von Geburt an besiedeln sie unterschiedliche Teile unseres Körpers (Mund, Atemwege, Haut, Magendarmtrakt, Vagina). Der Darm beherbergt unsere größte mikrobielle Gemeinschaft – zehntausende Billionen an Organismen, deren Genome zusammengefasst ungefähr 100-mal mehr Gene enthalten als unser menschliches Genom und uns mit funktionalen Fähigkeiten ausstatten, die wir nicht selbst entwickeln mussten. Diese erweiterte Sicht auf das „Selbst“ wirft die grundlegenden Fragen auf, wie sich unsere mikrobiellen Gemeinschaften (Mikrobiota) und ihre Gene (Mikrobiome) vernetzen und sich erhalten, wie sie sich an veränderte Bedingungen anpassen und welche Funktionen sie übernehmen. Jeffrey Gordon veröffentlichte die ersten eingehenden und aufschlussreichen Ergebnisse zu diesem Thema Mitte der 1990er-Jahre an der Washington University in St. Louis, Missouri, wo er seine Ausbildung erhielt und seinen gesamten Cursus honorum durchlief, vom Assistenzprofessor für Medizin und Biochemie bis zu seiner jetzigen Position als Distinguished University Professor und Direktor eines interdisziplinären Zentrums für Genomwissenschaften und Systembiologie. Sein Laborteam begann, der Entwicklung im Darm mehr Augenmerk zu schenken. Man wollte vor allem wissen, wie das Epithel, das den Darm auskleidet, seine unterschiedlichen Funktionen über die gesamte Länge des Darms entwickelt und aufrechterhält. Durch Studien an gentechnisch veränderten Mäusen kam Prof. Gordon zu dem Schluss, dass die „Positionsidentität“ dieser Zellen in hohem Maße durch Umweltfaktoren beeinflusst wird. Jeffrey Gordon wandte sich der Mikrobiota zu, da er diese Positions-„Anweisungen“ finden wollte. 1996 konnte er berichten, dass die Besiedelung von Mäusen, die ursprünglich unter sterilen („keimfreien“) Bedingungen mit einer einzigen markanten humanen Darmbakterienart herangezogen worden waren – Bacteroidesthetaiotaomicron (Bt) – ein Entwicklungsprogramm aktivierte, mit dem die Produktion von komplexen Zelloberflächenzuckern (Polysacchariden) im Darmepithel angekurbelt wurde aber nur, wenn Bt funktionale Gene für die Nutzung dieser Polysaccharide als Nährstoffe besaß. Diese Erkenntnis unterstreicht, wie wichtig Beziehungen zum Austausch von Nährstoffen bei der Bildung und Aufrechterhaltung von Symbiosen zwischen Wirt und Mikroorganismen im Darm sind. Er konnte schließlich nachweisen, dass man keimfreie Tiere mit bestimmten Gemeinschaften wachsender Komplexität und Diversität besiedeln kann, die sich aus kultivierten und genomsequenzierten Arten der Mikrobiota des menschlichen Darms zusammensetzen. Wissenschaftler konnten aufgrund dieses fantastischen Ergebnisses erstmals diese gnotobiotischen Tiere einsetzen, deren mikrobielle Zugehörigkeit systematisch verändert werden konnte. Damit wollte man grundlegende Fragen beantworten, wie die einzelnen Mitglieder der menschlichen Darmmikrobiota zusammenwirken, sich konkurrenzieren, und erfolgreich die Physiologie ihres Wirts in unterschiedlichen nährstofflichen, stoffwechselbedingten und genetischen Umgebungen beeinflussen. Ein neues Forschungsgebiet war geboren – und es besaß ein enormes Potential für die Grundlagenbiologie und die Biomedizin, und sein Begründer war ganz klar Jeffrey Gordon. In den darauffolgenden Jahren konnten er und sein Team über eine Reihe bahnbrechender Entdeckungen berichten, die das menschliche Mikrobiom mit zwei weltweiten Gesundheitsproblemen in Verbindung bringen – der Fettleibigkeit und der Unterernährung bei Kindern. Seine Entdeckung, dass das Transplantieren der Mikrobiota aus dem Darm genetisch fettleibig gezüchteter Mäuse oder fettleibiger Menschen in keimfreie Mäuse zu erhöhter Adipositas und veränderten Stoffwechselphänotypen im Vergleich zur Mikrobiota von mageren Spendern führte, bahnte den Weg zum Konzept, dass mikrobielle Gemeinschaften, und nicht bloß einzelne Organismen, den Gesundheitszustand bestimmen können. Seine Erkenntnisse verän-derten die „Keimtheorie“ grundlegend. Seine Ergebnisse wurden vom US National Institute of Health als Begründung dafür herangezogen, warum Projekte zum menschlichen Mikrobiom notwendig und zeitgemäß sind. Unterernährung ist weltweit die wichtigste Todesursache bei Kindern unter fünf Jahren und kann nicht allein durch Ernährungssicherheit erklärt werden. Es ist vielmehr so, dass sich derzeit die Behandlungen als unzureichend erweisen. In Geburtskohortenstudien, durchgeführt in mehreren Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen, konnten Gordon und sein Team „altersdiskriminierende“ Bakterienstämme identifizieren, deren Darstellungsmuster in der sich entwickelnden Mikrobiota veränderlich sind und die gemeinsam ein Programm für den normalen Aufbau der Darmgemeinschaft bei gesunden Säuglingen und Kindern definieren. Er fand heraus, dass dieses Programm mit Ende des zweiten Lebensjahres größtenteils abgeschlossen ist, bei Kindern mit mäßiger bis akuter Fehlernährung jedoch gestört ist – dadurch kommt es bei ihnen zu einer unreifen Mikrobiota. Diese „Positionsidentität“ ihrer Mikrobiota lässt sich mit den derzeitigen Therapien nicht beheben. Durch die Transplantation der Mikrobiota von gesunden oder fehlernährten Kindern in keimfreie Mäuse konnten Bakterienstämme identifiziert werden, die das Wachstum fördern. Sein Therapieziel wurden fortan diese Bakterienstämme, von denen viele in unreifer Mikrobiota nicht ausreichend vertreten sind. Um kulturell akzeptable, erschwingliche und skalierbare Behandlungen zu entwickeln, testete er verschiedene Kombinationen von Beikostnahrung aus Bangladesch (d.h. jene Nahrung, die Kinder beim Abstillen bekommen) an gnotobiotischen Mäusen und gnotobiotischen Ferkeln, deren Darm mit Bakteriengemeinschaften unterernährter Kinder aus Bangladesch besiedelt wurden. Die Ergebnisse führten zu Prototypen einer microbiota-abgestimmten Beikostnahrung (MDCF), die die Fitness und positive Wirkung der anvisierten Bakterienstämme erhöhten. Als sie diese Ergebnisse auf den Menschen übertrugen, führte einer der führenden MDCFs als vorhandene therapeutische Fertignahrungsmittel zu einer deutlich stärkeren Gewichtszunahme unter Kindern in Bangladesch, die unter mäßiger bis starker Fehlernährung litten; diese Reaktion auf MDCF wurde mit der Reparatur der Mikrobiota und vielerlei Veränderungen bei wichtigen Regulatoren für gesundes Wachstum in Zusammenhang gebracht. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Professor Jeffrey Gordon eine wichtige Vorreiterrolle in jenem Bereich spielt, der unser Verständnis von der grundlegenden Bedeutung des Darmmikrobioms für die menschliche Gesundheit und für Krankheiten geprägt hat. Seine bahnbrechenden wissenschaftlichen Entdeckungen eröffneten uns den Zugang zu neuen therapeutischen Ansätzen bei vielen verheerenden Erkrankungen beim Menschen. Seine Bemühungen, mehr über die Wechselbeziehungen der von uns konsumierten Nahrungsmittel und unseren mikrobiellen Darmgemeinschaften zu erfahren, könnten unser Verständnis darüber, wie Lebensmittelinhaltsstoffe mit der menschlichen Gesundheit zusammenhängen und wie die dringende globale Herausforderung von Mangelernährung bekämpft werden kann, grundlegend verändern. Der von ihm begründete Mikrobiom-Forschungsbereich erfuhr weltweit an Universitätsinstituten, in Pharma- und Biotech-Unternehmen ein phänomenales Wachstum, und sein Labor brachte auf diesem Gebiet eine Vielzahl von führenden Wissenschaftlern der nächsten Generation hervor.

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