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Shmuel Noah Eisenstadt

Balzan Preis 1988 für Soziologie

Shmuel Eisenstadt hat mehr als jeder andere Soziologe unserer Zeit soziologische Theorie mit historischer und empirischer Forschung verknüpft und so unsere Kenntnis der Einzigartigkeit wie der Gemeinsamkeiten und Wechselbeziehungen alter und neuer Gesellschaften in Afrika, Asien, Europa, Nord- und Lateinamerika gefördert.

Als Schiller und Assistent von Martin Buber mit philosophischer und historischer Kulturvergleichung vertraut, vervollständige Eisenstadt (1923 – 2010) seine soziologische Ausbildung nach dem Doktorat an der London School of Economics durch die neuesten Methoden empirischer Erforschung der modernen Gesellschaft.

Seine Sporen als empirischer Soziologe verdiente er sich mit seinem ersten Werk über The Absorption of Immigrants (1955). Gleichzeitig stürzte er sich mie grossem Eifer auf das Gebiet vergleichender soziologischer Untersuchungen. Das erste Ergebnis dieser Ausrichtung war sein Buch Von Generation zu Generation (1956), das ihn sofort unter Anthropologen, Soziologen und Erziehungswissenschaftlern bekannt machte. Er verband darin die neue von Parsons und Shils entwickelte soziologische Theorie, seine anthropologischen Studien und eigene Beobachtungen über das Verhalten Jugendlicher in modernen Gesellschaften mit einer weitausholenden Untersuchung der verschiedenen Formen, durch die in früheren Gesellschaften die Eingliederung Jugendlicher in die Erwachsenenwelt gewährleistet wurde. Dabei wies er die grundlegende Bedeutung der peergroups, der Gruppen Gleichaltriger für die Jugendbildung nach.

Sein nächstes Werk bedeutete den Durchbruch in der vergleichenden Kultursoziologie, aber auch für Eisenstadts akademischen Ruf. Historiker, Religions- und Literatunwissenschafter begannen ihn zu schätzen als einzigastigen Soziologen, der hinlänglich mit ihren eigenen Fachgebieten vertraut war, um ihnen neue Perspektiven in ihren Forschungen zu öffnen. The Political Systems of Empires (1963) hat man als das bedeutendste Werk in vergleichender Soziologie seit Max Weber gerühmt. Wie Weber weist sich Eisenstadt über eine fast übermenschliche Beherrschung der Literatur vieler Epochen und Gesellschaften aus. Doch übertrifft er Weber in der Klarheit und inhaltlichen Ausgestaltung seiner Hypothesen, vor allem in der systematischen Gliederung der Masse historischer Studien über alte westliche, mesopotamische, asiatische Gesellschaften und die Entwicklung der europäischen Staaten im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit.

Eisenstadts umfassende Perspektiven schufen Raum für Untersuchungen zur Modernisierung der Gesellschaften Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, die aus dem Rückzug der europäischen Mächte aus diesen Kontinenten hervorgegangen waren. Er hat auf diesem Gebiet Pionierarbeit geleistet, indem er seine Forschungen in einen viel weiteren und reicheren Rahmen stellte als andere Forscher, die sich auf die wirtschaftliche oder politische Entwicklung beschränkten. Es veröffentlichte zu diesem Thema mehrere Bücher, die weltweite Beachtung fanden: Tradition, Wandel und Modernität (1973, deutsch 1979); Revolution and the Transformation of Societies (1978); Patrons, Clients and Friends (1984).

Aus seinen vergleichenden Studien zog er Konsequenzen für die makrosoziologische Theoriebildung in The Forms of Sociology (1973), Patterns of Modernity (1987), Centre Formation – Protest Movements and Class Structure in Europe and the United States (1987). Er wandte seinen multidimensionalen Ansatz auch an in der Analyse seiner heimatlichen Gesellschaft in ihrer Bildung durch die Übernahme und Anpassung biblischer und mittelalterlicher Religiosität und moderner weltlicher Traditionen des Judentums: Die Transformation der israelischen Gesellschaft (1985, deutsch 1987).

Es ist jedoch nicht nur die Weite seiner wissenschaftlichen Orientierung, die das Werk Eisenstadts auszeichnet. Er dringt immer wieder mir ratlosen Eifer in die tiefsten Probleme menschliches Existenz ein. Von seinem Verständnis des charismatischen Charakters, das er seinen Übersetzungen von Schriften Max Webers (1968) verdankt, ist er zu einer tiefschürfenden Analyse der vielfältigen Beziehungen zwischen den Vorstellungen transzendentaler und weltlicher Ordnungen vorgedrungen. In den letzten Jahren hat er eine Reihe internationaler Tagungen über Karl Jaspers Konzept der “Achsenzeiten” veranstaltet, in denen er – über Jaspers hinausgehend – Wissenschaftler aus verschiedenen Kulturen zusammenführte, um gemeinsam die Beziehungen zwischen der kosmischen und diesseiten Ordnung der Welt als Grundbedingung der Entwicklung der Menschheit zur Menschlichkeit zu erfassen.

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