Dankesrede – Rom, 19.11.1996

Deutschland

Arno Borst

Balzan Preis 1996 für Geschichte: Kultur des Mittelalters

Arno Borst hat der Erforschung der mittelalterlichen Kultur durch vielfältige Untersuchungen von grosser Originalität und Gründlichkeit zahlreiche Impulse gegeben. Seine ungewöhnliche Fähigkeit zu einfühlsamer Interpretation der Quellen hat nicht nur der Fachwelt, sondern auch einer breiteren Leserschaft eine Fülle von Einsichten in die fremd gewordene Welt Alt-Europas vermittelt.

Herr Staatspräsident,
Hochansehnliche Festversammlung,

Tausend Jahre Mittelalter hinter mir, fünf Minuten Redezeit vor mir: was soll ich da sagen? Ich kann nur kurz an eine einzige Besonderheit der mittelalterlichen Kultur erinnern, die denkwürdigen Tage. Sie wurden inzwischen verdrängt durch die sogenannten historischen Tage. Vor fünfzig Jahren verurteilte Jorge Luis Borges sie als kurzatmige Erfindungen der Moderne, die der wirkliehen Geschichte zuwiderliefen. Mit dem Kult der jornadas históricas habe Goethe begonnen, als er bei der Kanonade von Valmy am 20. September 1792 behauptete, von hier und heute gehe eine neue Epoche der Weltgeschichte aus. Seitdem würden von Politikern, Journalisten und Filmproduzenten viele historische Tage künstlich hergestellt oder vorgetuscht. Die wahre Geschichte sei schamhafter und halte ihre entscheidenden Daten für lange Zeit geheim. In der Tat stand erst 1880 fest, dass für die Französische Revolution der Sturm auf die Pariser Bastille weit wichtiger war als die Kanonade von Valmy. Auch wenn wir historische Tage zu aktuellen Zwecken erfinden, werden schon unsere Enkel sie vergessen haben.

Vor hundertsiebzig Jahren trauerte Giacomo Leopardi den denkwürdigen Tagen nach, die zweitausend Jahre überlebt und an uralte Ereignisse erinnert hatten. “Bedeutende Erinnerungen, religiöse und weltliche, öffentliche und private, Geburtstage und Todestage teurer Personen und dergleichen mehr alljährlich zu feiern war und ist Sitte bei allen Völkern, die Erinnerungen und Kalender haben oder hatten”. Zwar hätten “die Jahrestage eines Ereignisses in Wirklichkeit nicht mehr mit ihm zu tun als irgendein anderer Tag im Jahr”; aber es sei “ein schöner und liebenswürdiger Wahn, dass (…) an jenen Tagen gleichsam ein Schatten des Vergangenen aufsteigt und immer wiederkehrt und vor unseren Augen steht. Dadurch wird der traurige Gedanke von der Vernichtung dessen, was einmal gewesen ist, zum Teil gemildert und der Schmerz über viele Verluste gelindert. Diese Gedächtnisfeiern lassen uns das, was vorüber ist und nie wiederkommt, nicht als gänzlich verloren und vergessen erscheinen”.

Die Dichter Borges und Leopardi haben recht. Die Gelehrten der letzten zwei Jahrhunderte erfanden neue Merktage zuhauf und verwarfen die alten. Kein Intellektueller glaubt mehr wie Plutarch, dass die Stadt Ram wirklich am 21. April gegründet wurde, am letzten Tag eines Mondmonats, während einer Sonnenfinsternis. Keiner von ihnen behauptet noch wie Hieronymus, dass Jesus Christus wirklich am 25. Dezember zur Welt kam, in der Nacht der winterlichen Sonnenwende, beim Schein eines Kometen. Stattdessen konstituierte die Geschichtswissenschaft seit Leopold Ranke politische Hauptereignisse, die ganze Jahrhunderte beherrschten und sich nicht auf Kalendertage fixieren liessen: Reichsgründungen, Völkerwanderungen, Kreuzzüge, Entdeckungsreisen, Revolutionen. Seit Fernand Braudel trennten die Historiker die langfristigen Wellen, in denen sich ökonomische Strukturen veränderten, von dem kurzen Flackern politischer Ereignisse. Und seit Alistair Crombie zogen die Historiker die Kurven der “zwei Kulturen”, der vagen Ideen und der exakten Wissenschaften, weit jenseits der Lebenstage.

Zweifellos sind wir Menschen Objekte jener Geschichte, die von Gelehrten nachträglich in Systeme, Epochen und

Zyklen gefasst wird. Aaron Gurjewitsch rügte sie als entmenschlicht. Aber der Blick der Fachleute richtete sich auch auf die irdischen Subjekte dieser Geschichte, bei Jacob Burckhardt auf den duldenden, strebenden und handelnden Menschen, bei Marc Bloch auf das soziale Zusammenleben zeitgenössischer Menschen. Vollends seit 1968 verschob sich das allgemeine Interesse von der begriffenen zur erlebten Geschichte, von Entstehung, Blüte und Untergang der Institutionen zu Geburt, Lebenslaufund Tod der Menschen, zum homme quotidien, wie Jacques Le Goff schrieb. Das Jahr 1989 machte offenkundig, dass sich die neueste Weltgeschichte so wie das individuelle Leben nicht nur in Jahrhunderten oder Jahren verändert, sondern auch von einem Tag zum anderen. Während wir die physische Welt genauer als frühere Gelehrte begreifen, ist die historische Welt für uns nicht weniger unberechenbar, als sie es für Leopardi war.

Wenn wir nicht hilflos von Tag zu Tage, vom Versuch zum Irrtum weitertaumeln wollen, müssen wir zurückgreifen auf ebenso ungenaue wie liebenswürdige Daten, die unser Dasein in verständlicher Sprache bezeichnen. Deshalb benennen wir den Monat November noch nach dem Kalender, den Caesar vor über zweitausend Jahren einführte. Deshalb zählen wir das Jahr 1996 noch ab incarnatione dominica, wie es Beda vor fast dreizehnhundert Jahren vorschlug. Von der Kalenderreform Papst Gregors XIII. fiel der 19. November auf ein späteres Datum; trotzdem erinnert er daran, dass “heute” vor siebenhundertfünfzig Jahren Elisabeth von Marburg starb, ein denkwürdiges Vorbild tätiger Nächstenliebe noch für Mutter Teresa. Auch wenn wir nicht genau wissen, ob Dante seine poetische Jenseitswanderung am 7. April antrat, wurde an diesem fingierten Freitag vor rund siebenhundert Jahren jene Sprache geboren, in der ich heute zu Ihnen zu reden versuche.

Seit fünfzig Jahren untersuche ich die Geschichte des Mittelalters, seit fünfundzwanzig Jahren die Lebensformen seiner Menschen, seit zehn Jahren ihre Lebenszeiten. Heute zeichnet die Balzan-Stiftung meine persönlichen Beiträge zu dieser allgemeinen Arbeit so festlich aus, dass der 19. November für den Rest meines Lebens ein wahrhaft denkwürdiger Tag bleibt. Damit diese Erinnerung mich überlebe, überweise ich den Grossteil des Preisgelds an eine Stiftung, in der meine Arbeit fortgesetzt wird. Denn ich glaube, dass die Erforschung mittelalterlicher Lebenszeiten mithelfen kann, die gegenwärtige Welt menschlicher zu machen. In unseren Tagen beschleunigter Tätigkeiten verlieren wir leicht die Orientierung. Dann müssen wir uns erheben über die niedrige Augenhöhe der Zeitgenossen, wie Arnold Esch sagte. Wenn wir zu Mitmenschen der Vergangenen und der Zukünftigen werden wollen, hilft uns die Erinnerung an die Toten, an ihre Trauer und Angst, an ihre Freude und Hoffnung, an ihre denkwürdigen Tage.

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