Deutschland
Balzan Preis 2000 für Rechtsgeschichte der Neuzeit
Europäische Rechtsgeschichte der Neuzeit – Rom, 15.11.2000
Die unerwartete und ehrenvolle Würdigung meiner Arbeiten durch die Zuerkennung des Balzan-Preises 2000 bringt mich zum Nachdenken darüber, was in den dreißig Jahren seit dem Ende meines Universitätsstudiums geschehen ist und welche Richtung ich selbst genommen habe. Das Ergebnis ist selbstverständlich subjektiv geprägt. Aber da wir alle „Kinder unserer Zeit“ sind, mögen auch Züge erkennbar sein, die über das Persönliche hinausreichen.
Aufgewachsen in einem pfälzischen Dorf, eingebunden in bäuerliche Arbeiten, habe ich bis heute eine starke Neigung zum Land und zur ländlichen Lebensweise. Nach einer wenig inspirierenden Schulzeit, die ich 1960 mit Erleichterung beendete, habe ich zunächst nicht studiert, sondern eine Lehre im Weinbau absolviert. Geblieben ist hiervon vermutlich eine Einstellung zu wissenschaftlichen Arbeiten, die handwerkliche Solidität höher schätzt als bemühte Extravaganz und die das gut Erzählte der Spekulation vorzieht. Aufgewachsen freilich auch im freien Westen, ohne politische Pressionen und ohne materielle Sorgen. Gleichwohl blieb das Elend der deutschen Teilung präsent. Die Familie meiner Mutter stammte aus der (preußischen) Provinz Sachsen; immer noch gab es Verwandtschaft und andere Bindungen an das jahrzehntelang fast unerreichbare Land.
Mein Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg und Würzburg verlief problemlos. Wie die meisten Studierenden dieses Fachs gewann ich erst im Laufe der Zeit Geschmack an den juristischen Fragen. Zunächst dominierte die Leidenschaft zur Literatur. In Heidelberg fand ich mich ab 1961 in Vorlesungen und Seminaren von Erwin Walter Palm, der kurz zuvor als Kunst- und Kulturhistoriker der ibero-amerikanischen Welt aus dem Exil in Santa Domingo zurückgekehrt war. Dorthin waren er und seine Frau, die Lyrikerin Hilde Domin, vor dem nationalsozialistischen Staat geflohen. Palm vermittelte Lyrik von Lorca, Ungaretti und Rafael Alberti, er sprach über Calderon und Lope de Vega und er hielt ein Seminar über Gustav René Hockes Studien zum Manierismus. Für all das war ich viel zu jung und unerfahren, aber was zurückblieb, war eine „Idee“ von geistiger Arbeit.
Nach dem Examen in Würzburg (1965) wechselte ich nach München und traf dort meinen eigentlichen akademischen Lehrer, Sten Gagnér (1921-2000). Er war als schwedischer Rechtshistoriker dorthin berufen worden. Sein Seminar war liberal und anregend, vor allem in Fragen der Methodik. Was ihn beschäftigte, war die Durchdringung traditioneller Bilder von der Vergangenheit des Rechts durch eine kritische Wissenschaftsgeschichte. Dies gab er an seine Schüler weiter, freilich mehr durch vorgelebte Forschungspraxis als durch theoretische Belehrung. Ich promovierte bei ihm 1967 mit einer kleinen Arbeit, die 1972 in überarbeiteter Form unter dem Titel „Staatsraison, Recht und Moral in philosophischen Texten des späten 18. Jahrhunderts“ veröffentlicht worden ist. Seither bin ich Leser der Philosophie und Literatur der Aufklärung und der Klassik geblieben. Meine deutschen Favoriten jener Zeit heißen Lichtenberg und Lessing, Kant und Jean Paul sowie Johann Peter Hebel. Die englischen heißen Defoe, Fielding, Thackeray und Sterne, von den französischen bevorzuge ich eher die praktisch-skeptischen wie Montaigne und Montesquieu.
Was meine Generation in den Jahren zwischen 1965 und 1970 aber politisch bewegte, war die meist mehr erfühlte als analytisch ermittelte Verantwortlichkeit, die Erforschung der nationalsozialistischen Vergangenheit des eigenen Landes in die Hand zu nehmen. Die Väter und Mütter hatten hierauf unbefriedigende Antworten gegeben. Die Sicherheiten der „Adenauer-Zeit“ gingen zu Ende. Die weltpolitische Ordnung, mit der man aufgewachsen war („guter Westen“ – „böser Osten“) geriet mit dem Vietnam-Krieg ins Wanken. Die Frage nach der NS-Vergangenheit war nur eine von mehreren Schlüsselfragen, um einen eigenen Standpunkt zu finden. In der Rechtsgeschichte war das Terrain nahezu unbearbeitet. Das schien eine Herausforderung zu sein, die nicht nur den wissenschaftlichen Ehrgeiz befriedigte, sondern auch der politischen Moral entsprach. So setzte sich das Interesse an der ideologiegetränkten Formel der „Staatsräson“ mit einer Studie über die „Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht“ fort. Ihr Inhalt läßt sich mit dem Satz von Bert Brecht aus dem Jahr 1934 kennzeichnen: „Die Zeiten der äußersten Unterdrückung sind meist Zeiten, wo viel von großen und hohen Dingen die Rede ist“. Diese Studie wurde 1973 an der Münchner Juristischen Fakultät als Habilitationsschrift akzeptiert. Dabei erhielt ich auch, meinen Interessen entsprechend, die venia legendi für Kirchenrecht. Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Kiel wechselte ich im Herbst 1974 nach Frankfurt a.M., wo ich seither arbeite.
Das Jahrzehnt zwischen 1975 und 1985 enthielt, wenn ich nun zurückblicke, eine Fülle von Aktivitäten, die sich in mehreren Schichten überlagerten. Erstens mußte viel gelernt werden, vor allem das geltende Staats- und Verwaltungsrecht und die universitäre Selbstverwaltung. Ich arbeitete mich in das Sozialrecht ein, und zwar auch hier auf dem Weg der historischen Erschließung. 1976 erschien ein (heute längst veraltetes) Buch „Quellen zur Geschichte des Sozialrechts“, und von da an sollte mich das Sozialrecht intensiv begleiten, sowohl als geschichtliches Phänomen wie als Gegenstand aktueller Rechtspolitik. Das Recht der Sozialhilfe, das Jugendhilferecht, das Recht der Behinderten und der kirchlichen Sozialarbeit beschäftigten mich jahrelang. Zweitens versuchte ich, in verschiedenen Einzelstudien in das Staatsrecht der frühen Neuzeit einzudringen. Das führte zu dem 1977 publizierten Band „Staatsdenker der frühen Neuzeit“ (3. Aufl. 1995). Das elementare Interesse an der Entstehung des frühmodernen Staates war geweckt: Wie und warum kam es zum Wachstum dieses Leviathan mit seinem Beamtentum, seinen Finanzen, seinem Heerwesen, seinem Zeremoniell und seinen nach innen und außen gerichteten Abgrenzungen unter den Worten „ragion di stato“ und „souveraineté“? Welche Rolle spielen dabei die Juristen und wie schaffen sie sich einen neuen Zweig der Ausbildung, in dem es nun ein „ius publicum“, Vorlesungen über „Naturrecht“, Kameral- und Policeywissenschaft gab? Ich erarbeitete meine Vorträge und Aufsätze nun fast instinktiv so, daß ich schrittweise das große Terrain erkundete, etwa wie man Steine in einen Sumpf wirft, um darüber gehen zu können. Am Ende des Jahrzehnts fühlte ich mich – leichtsinnig genug – so weit vorbereitet, daß ich es wagen konnte, eine zusammenfassende Darstellung einer „Geschichte des öffentlichen Rechts“ in Angriff zu nehmen.
Mein unmittelbares Vorbild war die „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit“ von Franz Wieacker (2. Aufl. 1967), ein Buch, das mich seit meiner Studienzeit begleitet, begeistert und belehrt, aber auch mit vielen offenen Fragen zurückgelassen hatte. Warum, so dachte ich, sollte es nicht ein Parallelstück auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts geben? Dieses Gebiet war, wie man leicht sehen konnte, völlig vernachlässigt, weil es in Deutschland kaum Rechtshistoriker gab, die Rechtsgeschichte und Öffentliches Recht verbanden. Was einige Öffentlichrechtler lehrten, war Verfassungsgeschichte der Neuzeit, die meist erst mit der Französischen Revolution begann. Die frühe Neuzeit, verstanden als die Zeit zwischen dem späten Mittelalter und dem Ende des Ancien Régime, fand kaum Interessenten. Und wenn es Interesse gab, dann richtete es sich eher auf die Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen, der Kriege und Friedensverträge oder der Institutionen des Alten Reichs. Dagegen fehlte eine Geschichte des „Denkens“ über öffentliche Herrschaft, eine Geschichte der Autoren und der Bücher, der Universitäten und Ritterakademien sowie der Studenten. Mir schwebte eine Geschichte vor, die dem Gedanken beschreibend folgte. Dabei sollte es nicht nach Art der Philosophen um „rationale Rekonstruktion“ gehen, sondern um Erfassung der Gedanken von Autoren oder Autorengruppen im Kontext ihres Lebensgefühls, der sie umgebenden Politik und Konfession, ihrer Hoffnungen und Aversionen. Mich interessierten die frommen und konservativen Lutheraner, die rationalen, strengen und auf die Gemeinde orientierten Calvinisten, die scholastisch gewandten und modern denkenden Jesuiten. Ich las die Werke von Universitätsprofessoren und ihren Schülern, von Geheimräten und Diplomaten. Je mehr ich von den Gipfeln der berühmten Namen in die Täler der vergessenen Autoren abstieg, desto mehr wiederholten sich die Gedanken, aber sie gewannen auch an Breitenwirkung und an Repräsentativität. Am Ende lief dies auf ein Panorama des ius publicum im Alten Reich hinaus, also etwa von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Zusammenbruch der Reichsverfassung im Jahr 1806.
Nach fast zwei Jahren versunkener Lektüre und Schreibarbeit, vor allem in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, war dieser erste Band der „Geschichte“ abgeschlossen; er erschien 1988. Vier Jahre später der zweite Band, der das 19. Jahrhundert behandelte, und zwar bis zu seinem eigentlichen Ende im August 1914. Hier ging es um den Eintritt in ein langes zerrissenes Jahrhundert. Es begann mit der Französischen Revolution und den napoleonischen Kriegen und führte dann in das konstitutionelle Zeitalter, das zugleich ein Zeitalter der politischen Unterdrückung im „System Metternich“ geworden ist. Dennoch war die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Entwicklung des Verfassungsdenkens, für die Entstehung des Rechtsstaats und des Verwaltungsrechts eine ausgesprochen produktive Zeit. Sie gipfelte im europäischen Ereignis der Revolutionen von 1848/1849. Nach deren Scheitern wandte sich die politisch schockierte bürgerliche Gesellschaft der „Realpolitik“ zu und suchte eine Kompensation für den nicht erreichten liberalen Nationalstaat in der ökonomischen Entwicklung, im Erfolg der Naturwissenschaften und in den Garantien des Rechtsstaats. Rechtswissenschaftlich bedeutete dies eine Hinwendung zum Wissenschaftspositivismus und – nach der Reichsgründung – zum Gesetzespositivismus. Entsprechend breiten Raum nehmen deshalb dessen Heroen Carl Friedrich von Gerber und Paul Laband ein, aber auch die schon im Kaiserreich unübersehbaren „antipositivistischen“ Gegenpositionen (Hänel, Schulze, Gierke, Smend).
1995 ermöglichte die Unterstützung durch den Svenska Riksbanken Jubileumsfonds einen Aufenthalt von sechs Monaten an der südschwedischen Universität Lund. In dieser traditionsreichen kleinen Stadt in der Nähe des Meeres gelang es, wenigstens die Fundamente für den dritten Band der „Geschichte“ zu legen. Fertiggestellt wurde er dann in längeren Etappen in Frankfurt. Er reicht nun vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Hitler-Regimes. Das bedeutete, daß er in „Republik“ und „Diktatur“ geteilt werden mußte. Er verband somit Glanz und Elend der deutschen Staatsrechtslehre; denn die erste Periode gilt als eine der interessantesten und kreativsten der Staatstheorie. Bis heute werden die Werke von Rudolf Smend und Erich Kaufmann, Heinrich Triepel, Gerhard Anschütz und Richard Thoma, Hermann Heller und Hans Kelsen nachgedruckt und analysiert. Neben den Genannten steht Carl Schmitt, konservativer Proteus unter den Staatsrechtlern, glanzvoller Stilist mit einer Gabe für einprägsame Wendungen und Begriffe, ehrgeiziger und selbstverliebter Karrierist, der sich dem Nationalsozialismus in die Arme warf, aber von diesem bald zurückgewiesen wurde. Die zweite Hälfte des Buches ist dann einer Staatsrechtslehre gewidmet, deren Gegenstand in der „Führerdiktatur“ schrittweise zerfiel und die selbst nichts mehr konstrukiv beizutragen hatte. Ich habe diese Geschichte der intellektuellen Ratlosigkeit, des Mangels an Zivilcourage und des langsamen Verstummens mit innerer Bewegung geschrieben, wohl wissend, daß noch viel Detailarbeit zu tun ist und daß viele Bewertungen im Laufe der Zeit überholt sein würden. Dennoch sollte es erst einmal ein Gesamtbild geben. Über fünfzig Jahre nach dem Ende des Regimes und nach dem Tod der meisten Protagonisten schien hierzu die Zeit längst gekommen. Inzwischen hat sich auch die Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer entschlossen, auf der Jahrestagung 2000 in Leipzig, eine Vortragsveranstaltung zur Rolle der Staatsrechtslehre im Nationalsozialismus zu wagen. Diese Veranstaltung, auf der Horst Dreier (Würzburg) und Walter Pauly (Jena) referierten, wurde überwiegend als „Befreiung“ empfunden.
Ob nun auch noch ein vierter Band für die Zeit der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik von ihren Anfängen bis zur deutschen Wiedervereinigung (1989/1990) folgen wird, bleibt offen. Es gibt Verlockungen, dieses Unternehmen zu beginnen, aber das Risiko des Scheiterns ist angesichts der eigenen Nähe zum Gegenstand, der ständig wachsenden Stoffmassen und der möglicherweise verzerrten Perspektive relativ hoch.
Deshalb trat eine Reihe kleinerer Studien dazwischen. Parallel zu den drei genannten Bänden ist je ein bei Suhrkamp erschienenes Taschenbuch mit gesammelten Aufsätzen entstanden (Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, 1990; Recht im Unrecht, 1994; Konstitution und Intervention, 2001, letzteres im Druck). Dazu gab es Reflexionen über die stets problematische Beziehung von „Staatsrechtslehre und Politik“ (1996) und über die Methodenlehre der Rechtsgeschichte („Rechtsgeschichte als Kunstprodukt“. Zur Entbehrlichkeit von „Tatsache“ und „Begriff“, 1997). Hieraus könnte eines Tages eine Wissenschaftsgeschichte der Rechtsgeschichte seit der frühen Neuzeit entstehen. Dazu müßten die Quellen des 15. und 16. Jahrhunderts befragt werden, wann von einer Historisierung des Rechts, wann von Recht als veränderbarem Produkt menschlichen, also geschichtlichen Handelns gesprochen werden kann. Auch käme es darauf an, zu untersuchen, wann und unter welchen Bedingungen die Rechtsgeschichte als eigenes Fach in den Ausbildungskanon der Universitäten aufgenommen wurde. Das würde auch eine Neubewertung der Historischen Schule Savignys und Eichhorns implizieren sowie eine Bilanz der Leistungen der Rechtsgeschichte des Mittelmeerraums in den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts. Doch sind dies Überlegungen, die in die Zukunft reichen.
Ein Kontinuum meiner rechtshistorischen Arbeit in Frankfurt sei noch erwähnt. Es ist die mir besonders am Herzen liegende Anregung und Förderung der nächsten Generation. Hierzu sind die Bedingungen in Frankfurt besonders günstig. Während an vielen deutschen Universitäten heute Lehrstühle für Rechtsgeschichte eingezogen oder umgewidmet werden, weil die vorhandenen Kapazitäten unter dem Druck der Verkürzung der Studienzeiten und der Forderung nach „Nützlichkeit“ umgeschichtet werden, hat die Fakultät in Frankfurt vier volle Professuren für Rechtsgeschichte erhalten können. Seit einem Jahrzehnt werden junge Doktoranden an einem „Graduiertenkolleg für mittelalterliche und neuzeitliche Rechtsgeschichte“ gefördert. Das seit 1964 bestehende Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte bildet einen internationalen Anziehungspunkt für die Forschung. Jährlich findet ein „Sommerkurs europäische Rechtsgeschichte“ statt, bei dem sich Doktoranden und Habilitanden aus allen europäischen Ländern versammeln. In diesem Klima, befreit von allzu enger traditioneller Anbindung an dogmatische Fragen des Bürgerlichen Rechts, gedeiht eine sozusagen in alle Richtungen ausschwärmende Rechtsgeschichte, die vor allem den Kontakt mit anderen Sozialwissenschaften sucht und die Verengung auf die nationale Perspektive für überholt hält. Hier zu ermuntern und zu fördern gehört zu den großen Freuden eines auf die Wissenschaft konzentrierten Lebens. Denn ein „kleines Fach“ auf der Grenze zwischen Geschichtswissenschaft und Jurisprudenz, das in beide Richtungen um Anerkennung bemüht sein muß, kann nur lebendig bleiben, wenn sich immer wieder junge Talente einfinden, die sich – dem Nützlichkeitskalkül Widerstand leistend – mit Leidenschaft der Erforschung der Vergangenheit widmen. Sie werden dadurch belohnt, daß sie nicht nur mehr über die Funktionsweise früherer Rechtskulturen wissen, sondern auch mehr über ihre Gegenwart und sich selbst erfahren.
Das klingt nach einem kargen Ethos. Und tatsächlich kann sich ein spezialisiertes historisches Fach wie die Rechtsgeschichte nicht mit dem Pathos des Fortschritts präsentieren, mit dem in unseren Jahren etwa die Entschlüsselung der Bausteine des Lebens, die Neurowissenschaften, die Umweltwissenschaften, die Nanotechnologie, die elektronische Datenverarbeitung und andere Stars der Szene publizistisch begleitet und ökonomisch unterstützt werden. Die Rechtsgeschichte kann keine Wege in die Zukunft weisen, schon weil die Grenze zwischen deskriptiver und normativer Aussage prinzipiell unüberwindbar bleibt. Sie kann auch nicht immer heitere Geschichten erzählen; denn das staatlich garantierte Recht ist auch ein künstlich errichteter Damm gegen Gewalt und Demütigungen, gegen Verbrechen, Hunger und Leid aller Art. Rechtsgeschichte ist folglich auch ein Arsenal von Geschichten über die Gebrechlichkeit menschlicher Existenz. Sie ermöglicht Einblicke in die Orientierung des Lebens an Regeln. Alle Gesellschaften geben sich ihre Form durch gewachsene oder neu geschaffene Normen, durch Sitte und Brauch, durch Regeln aller Art von geringerer und höherer Verbindlichkeit, abgestützt durch leichtere oder schwerere Sanktionen im Fall der Verletzung. Wie solche Regeln entstehen, an immer wieder neue Generationen vermittelt, stets bei der Anwendung (oder Umgehung) umgeformt werden, bis sie am Ende durch Außerkraftsetzung, Erlöschen oder Vergessen wieder verschwinden – alles dies gehört zum geistigen Leben von Gruppen, Gemeinden und Staaten. Es liegt auf der Hand, daß das Werden und Vergehen von Normen weitgehend kulturhistorisch erklärt werden kann. Rechtsgeschichte kann zeigen, wann ein „Bedarf“ an Normen besteht, warum eine Norm befolgt wird oder wirkungslos bleibt, wie sich Rechtsnormen und andere Normen ergänzen oder im Weg stehen. Insofern ähnelt die Arbeit der Rechtsgeschichte derjenigen der Kulturanthropologie oder Ethnologie, wenn auch das Material und die Perspektive verschieden sind.
Um es zu wiederholen: Die Ergebnisse rechtshistorischer Forschungen liefern keine Handlungsanweisungen für die aktuelle Politik und keine verlässlichen Prognosen für die Zukunft. Aber sie zu mißachten bedeutet zum einen, eine der wesentlichen Erkenntnisquellen für Voraussagen über die Wirkungsweise von Normen zu übergehen. Wichtiger aber ist zum anderen, daß die geschichtliche Frage den zentralen Zugang zu den Kräften bietet, die Individuum und Gesellschaft zu dem gemacht haben, was sie heute sind. Rechtshistoriker haben hieran auf ihrem Sektor der Kultur Anteil. Und da es vor allem die Jahrhunderte der Neuzeit sind, die unser Bewußtsein prägen, bin ich glücklich, daß der „neueren Rechtsgeschichte“, die erst seit einer Generation so genannt wird und sich entfaltet hat, die große Anerkennung eines Premio Balzan zuteil geworden ist.