Australien
John Braithwaite
Balzan Preis 2024 für Restaurative Justiz
„Champion of Restorative Justice“ heiβt eine der zahlreichen zivilen und akademischen Auszeichnungen, die John Braithwaite verliehen wurden (Champion of Restorative Justice in the ACT – Australian Capital Territory Government 2015). Der Titel „Champion of Restorative Justice“ ist wahrlich keine Übertreibung.
Aber was ist laut Braithwaite „restaurative Justiz“? Wenn wir seine Website (www.johnbraithwaite.com) öffnen, lesen wir folgende Beschreibung: „restaurative justice restores victims, restores perpetrators and restores communities. It is about the idea that because crime hurts, justice should heal“. Wir versuchen, diese Definition wie folgt zu übersetzen: „Restaurative Justiz bietet Opfern, Tätern und Gemeinschaften Wiedergutmachung an. Es geht um die Idee, dass die Justiz heilen soll, wo ein Verbrechen zu Schmerz geführt hat“. Die Straftat wird in ihrer Dimension als Machtausübung auf das Opfer erfasst. Sie ist eine Gewaltanwendung, die eine physische, materielle oder moralische Wunde verursacht, wobei die Justiz als Heilungsprozess verstanden wird.
Die von der restaurativen Justiz angebotene Möglichkeit der Heilung besteht vor allem aus einer Reihe von akzeptierten Begegnungen – conferences – zwischen den Opfern, den Tätern und möglicherweise anderen Personen, die für beide Seiten von Bedeutung sind. Mit der Hilfe eines Vermittlers werden sehr einfache, aber radikale und entscheidende Fragen gestellt: Was ist passiert? Und warum? Welche Personen waren betroffen? Warum gerade diese? Was kann man tun, um allen Beteiligten eine Zukunftsperspektive zu eröffnen? Diese Treffen zielen darauf ab, dass der Täter vor den Opfern und der betroffenen Gemeinschaft die Verantwortung übernimmt und somit reintegriert werden kann, ohne öffentlich gedemütigt zu werden: „reintegrative shaming“ ist das Konzept, das John Braithwaite in diesem Zusammenhang entwickelt hat.
Nach einer dreißigjährigen Praxis restaurativer Justiz kann festgestellt werden, dass diese Begegnungen den Opfern große Erleichterung verschaffen und zu einer deutlichen Reduzierung der Rückfälligkeit der Täter führen.
John Braithwaite ist einer der Begründer der Erforschung und der Praxis der restaurativen Justiz in der heutigen Zeit: Diese hat sich ungefähr ab Mitte der 1990er Jahre im Gefolge der Erfahrungen der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission von Nelson Mandela entwickelt. Es gibt kein Buch, keinen Artikel, keine Dissertation, keine akademische Konferenz und kein Bürgertreffen zum Thema Restaurative Justiz, das nicht auf die Arbeit von John Braithwaite verweist. Ohne seine Studien und sein nun schon mehr als 50 Jahre andauerndes praktisches Engagement hätte sich die restaurative Justiz nicht zu dem entwickelt, was sie heute ist, und sie hätte sicherlich weder die notwendige akademische Glaubwürdigkeit noch das Vertrauen internationaler und nationaler Institutionen erlangt.
Sein Interesse an der restaurativen Justiz ist ein Nebeneffekt seines Forschungsschwerpunkts zur wirtschaftlichen Regulierung – besonders hervorzuheben ist seine innovative Idee der „responsive regulation“ – und zu den Problemen der Wirtschaftskriminalität, besonders im Hinblick auf Phänomene der Korruption, die Teil eines allgemeineren soziologischen Interesses an Erscheinungsformen wirtschaftlicher und sozialer „Herrschaft“ sind, welche das soziale Gefüge zerreißen.
Daher konzentrierte er sich besonders auf die Auswirkungen von Verbrechen auf die Opfer und deren Bedürfnisse, was ihn dazu veranlasste, die Unzulänglichkeit einer auf Vergeltung abzielenden Justiz und der traditionellen Gerichtsverfahren zu erkennen, um als Reaktion darauf neue Formen der Gerechtigkeit zu entwickeln, darunter die der restaurativen Justiz, deren früheste Spuren in indigenen Kulturen zu finden sind.
Ergebnis seiner theoretischen Ausarbeitungen sind einige Konzepte, die mittlerweile allgemein anerkannt sind, wie z.B. die der „responsive regulation“, des „reintegrative shaming“ und der „restorative diplomacy“.
Die Breite seiner Veröffentlichungen ist grenzenlos, sowohl in Bezug auf die von ihm gepflegten Interessen als auch auf die Anzahl der veröffentlichten Bücher und Artikel.
Die Anzahl der Studentinnen und Studenten, die unter seiner Aufsicht einen Doktortitel (PhD) im Bereich der restaurativen Justiz erworben haben, beläuft sich auf nahezu einhundert. Um ihn herum hat sich eine Gemeinschaft von Wissenschaftlern gebildet, die die Kultur und die Erforschung der restaurativen Justiz in der ganzen Welt verbreitet.
Als Vertreter einer republikanischen Kultur im klassischen Sinne des Wortes (siehe unter anderem Not Just Deserts: A Republican Theory of Criminal Justice, geschrieben mit Philip Pettit, Oxford University Press, 1990) hat sich Professor Braithwaite nie in seinem Elfenbeinturm eingeschlossen, sondern viel Energie der Konstruktion von sozialen Wirklichkeiten und Orten in der Zivilgesellschaft zugewandt, in denen restaurative Justiz praktiziert werden kann. Gleichzeitig trug er entscheidend dazu bei, die soziale Praxis mit einer anerkannten normativen und institutionellen Architektur zu untermauern, die ein komplementäres System zu dem der traditionellen Justiz schaffen könnte.
Zu seinen Meisterwerken gehören Restorative Justice and Responsive Regulation, Oxford University Press (2002) oder Crime, Shame and Reintegration, Cambridge University Press (1989), welchem anlässlich des 30-jährigen Jubiläums seiner Veröffentlichung eine Sonderausgabe (Nr. 1 des Jahres 2020) der wichtigsten wissenschaftlichen Zeitschrift auf diesem Gebiet, The International Journal of Restorative Justice, gewidmet wurde. Erwähnenswert sind auch die in Regulation, Crime, Freedom, Dartmouth (2000; neue Auflage Routledge 2018), gesammelten Aufsätze, einem Band, der einige der repräsentativsten Studien von Braithwaite zusammenführt und im Rahmen einer Reihe von Collected Essays veröffentlicht wurde, die darauf abzielt, die wichtigsten Werke von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die einen besonders bedeutenden Beitrag zur Entwicklung der Rechtswissenschaften geleistet haben, zugänglich zu machen.
In den letzten Jahren hat Professor John Braithwaite Überlegungen zur restaurativen Justiz in Bezug auf die großen Probleme unserer Zeit entwickelt: Nachhaltigkeit, Krieg, Frieden, Klimawandel, Finanzwesen, Gesundheit, Verbrechensbekämpfung. Siehe zum Beispiel die Publikation Simple Solutions to Complex Catastrophes: Dialectics of Peace, Climate, Finance, and Health, Palgrave (2024).
In diesem Zusammenhang und mit Blick auf die globalen Konflikte unserer Zeit verdient das jahrzehntelange Projekt unter der Leitung von John Braithwaite mit dem Titel Peacebuilding Compared, besondere Erwähnung, das die großen bewaffneten Konflikte der Welt und die Prozesse der Friedenskonsolidierung bis ins Jahr 2030 verfolgt.
Wie Professor Braithwaite gerne wiederholt, ist die restaurative Justiz ein gangbarer Weg sowohl für die großen Dilemmata unserer Zeit als auch für die kleinen, aber brennenden Konflikte, die das tägliche Leben eines jeden plagen.