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Josiah Ober

Balzanpreis 2025 für Altertumswissenschaften: Athenische Demokratie – neu betrachtet

Für seine bahnbrechenden, weit über den universitären Bereich hinaus einflussreichen Forschungen zur Entstehung und Funktionsweise der Athenischen Demokratie in klassischer Zeit, deren Erfolgsfaktoren er in erfrischend interdisziplinärem Zugriff unter stetem Vergleich mit der Gegenwart herausarbeitet und in die zeitgenössische soziopolitische Diskussion einbringt.

Die Demokratie westlicher Prägung, so unterschiedlich sie in den einzelnen Ländern institutionell realisiert sein mag, galt lange Zeit, insbesondere nach dem Fall der Berliner Mauer, als Modell für eine Staatsform, die die Entwicklung jedes einzelnen sowie der Gemeinschaft am besten ermöglicht. Angesichts der weltweit evidenten Signale einer aktuellen Krise in den Demokratien wächst das Bedürfnis, historische Präzedenzfälle zu finden, um die gegenwärtigen sozialen und kulturellen Umwälzungen besser verstehen und in grössere Zusammenhänge einordnen zu können. Als privilegiertes Fallbeispiel bietet sich die athenische Demokratie der klassischen Zeit an: Sie hat den heutigen Demokratien nicht nur den Namen gegeben, sondern ist im Laufe der Geschichte ein regelmässiger Referenzpunkt geblieben. Die Forschung zur Demokratie in Athen hat in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht, und kaum jemand hat sich intensiver und innovativer damit auseinandergesetzt als der amerikanische Gelehrte Josiah Ober.

Schon seine althistorische Dissertation Fortress Attica: Defense of the Athenian Land Frontier, 404-322 (1985) lässt das intellektuelle Profil dieses herausragenden Wissenschaftlers erkennen, der nie bei einer antiquarischen Bestandsaufnahme stehen bleibt, sondern seine umfassenden Kenntnisse der literarischen und archäologischen Quellen jeweils unter Einbezug antiker und moderner Theoriebildung in eine gleichermassen kühne wie erhellende Gesamtschau münden lässt. Hatte er bereits in diesem akademischen Erstling die Bedeutung der attischen Redner für die Erschliessung der Meinungen athenischer Durchschnittsbürger unterstrichen, wird das rhetorische Textcorpus des 4. Jh. v. Chr. zum Schlüsselzeugnis für die Hauptthese des nächsten Buches Mass and Elite in Democratic Athens: Rhetoric, Ideology, and the Power of the People (1989), mit dem sich Josiah Ober – unter Rückgriff auf Semiotik, Diskurs- und Systemtheorie sowie dem Hegemoniekonzept von Antonio Gramsci – definitiv als innovativer Demokratieforscher etabliert hat: Wollen die in der Regel zur Elite gehörenden Redner Erfolg haben, müssen sie sich – in der Volksversammlung ebenso wie vor dem Rat der 500 und den ebenfalls demokratisch ausgelosten Geschworenengerichten – auf die Vorannahmen der Mehrheit einlassen und in ihrer Argumentation und Selbststilisierung an diese anknüpfen; insofern sichert das öffentliche, partizipative Aushandeln sinnvoller Entscheide im Grunde längerfristig den für die Demokratie unabdingbaren Interessensausgleich und zugleich die ‘ideologische Hegemonie der Massen’ als einer Kontrollinstanz über die Elite.

Schlag auf Schlag folgen – neben einer Vielzahl ausgezeichneter wissenschaftlicher Artikel – von 1996 bis heute 7 Monographien zur athenischen Demokratie, die von der Forschung durchgehend als bahnbrechend gepriesen wurden und die mit ihrem konsequent interdisziplinären Zugriff weit über den Bereich der Altertumswissenschaften hinaus gewirkt haben. Durch seinen originellen Einbezug moderner sozialwissenschaftlicher, politologischer und ökonomischer Theorieansätze – darunter auch die Rational Choice- und die Spieltheorie, zu denen ausserdem persönliche Erfahrungen im Beratungswesen hinzukommen – ist es Josiah Ober in beeindruckender Weise geglückt, die athenische Demokratie auch für die moderne Politikwissenschaft sowie die öffentliche politische Debatte interessant und anschlussfähig zu machen. Dies lässt sich ebenfalls an seiner akademischen Karriere ablesen, die ihn institutionell ausser in den Altertumswissenschaften immer stärker auch in der Politologie verankert hat. Bei allem Optimismus, der Josiah Obers Bild der athenischen Demokratie von Anfang an im Kern kennzeichnet, fehlt es in seinem Werk aber nicht an Hinweisen zu Defiziten im institutionellen Design, die besonders in der radikalen Demokratie der zweiten Hälfte des 5. Jh. v. Chr. eklatante Missbräuche staatlicher Macht begünstigten, und schon fast prophetisch wirkt es, wenn er 2008 von der Gefahr spricht, dass gewählte Amtsträger auf aufstrebende autoritäre Mächte mit verstärkter Zentralisierung der Exekutivgewalt, Angstrhetorik und Fundamentalismus reagieren könnten.

Trotz der Komplexität der behandelten Gegenstände sind alle Arbeiten Josiah Obers erfreulich gut lesbar und zeichnen sich dadurch aus, dass er stets auf der Höhe der zeitgenössischen Forschung argumentiert, souverän über die Quellen verfügt, literarische und philosophische Sachverhalte ebenso kompetent wie institutionelle und ökonomische erörtert (z. B. durchschnittliche Lebenshaltungskosten einer Athenerfamilie) und regelmäßig Vergleiche zu modernen demokratischen Institutionen anstellt. Auch als akademischer Lehrer hat Josiah Ober schulbildend gewirkt: Viele prominente jüngere Forscherinnen und Forscher zur athenischen Demokratie haben das Handwerk bei ihm gelernt und entwickeln seine Anregungen eigenständig und kreativ weiter.

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