Panoramic Synthesis – Bern, 19.11.1993

Deutschland

Lothar Gall

Balzan Preis 1993 für Geschichte: Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts

Lothar Gall, der mit sorgfältiger Quellenforschung, souveräner sozialhistorischer Analyse und faszinierender Erzählkunst Aufstieg und Krise des deutschen Bürgertums im Rahmen der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts lebendig macht und damit einen vielversprechenden neuen Weg der modernen Gesellschaftsgeschichte beschreitet.

Bei Betrachtung der europäischen und amerikanischen Historiographie der letzten Jahrzehnte fallt auf, dass die Erforschung der Geschichte des Bürgertums und der bürgerlichen Welt erst in den vergangenen fünfzehn Jahren zu einem Schwerpunktthema der modernen Sozialgeschichte geworden ist. Lange Zeit gerieten Historiker, die sich der Erforschung der historischen Sozialformation »Bürgertum« widmeten, schnell unter den Verdacht der rechtfertigenden Ideologiebildung und der wissenschaftlichen Handlanger Tätigkeit im Dienste bestimmter Ordnungen. Das hing auch damit zusammen, dass die meisten von ihnen selbst dem Bürgertum entstammten, sich diesem zurechneten und in »bürgerlichen« Demokratien lebten. Die grosse Systemkrise der sogenannten Volksdemokratien Osteuropas in den 1980er Jahren hat dann jedoch zusätzlich eine Verschiebung der Interessenschwerpunkte in der internationalen Forschung bewirkt. In dem Masse, wie der Glaube an die historische Fortschrittsmission der Arbeiterklasse verloren ging, richtete sich der Blick wieder mehr auf den Entstehungsprozess der modernen Gesellschaft selbst, auf dessen Ursprünge und Voraussetzungen, auf seine Antriebskräfte und Entwicklungsstufen. Zwangsläufig musste dabei das Interesse am Bürgertum als derjenigen gesellschaftlichen Schicht wieder an Aktualität gewinnen, die am Beginn und seit Beginn der Moderne eine entscheidende, wenn nicht gar die ausschlaggebende Rolle gespielt hatte.

Mein eigener Weg zur Erforschung der Geschichte der modernen Gesellschaften im allgemeinen und des modernen Bürgertums im speziellen hat in München bei Franz Schnabel mit einer Dissertation über die politische Ideenwelt Benjamin Constants begonnen, eines der führenden theoretischen Köpfe des französischen Frühliberalismus. Neben einer umfassenden Rekonstruktion seiner Staatskonzeption und Gesellschaftslehre wurde darin vor allem nach dessen Einfluss auf die politische Theorie und Praxis der liberalen Bewegung im vormärzlichen Deutschland, also in den Jahrzehnten vor der Revolution von 1848/49 gefragt.

In meinem zweiten, 1968 erschienenen Buch habe ich die Entwicklung des deutschen Liberalismus im liberalen Musterland Baden in der Zeit zwischen der grossen Umwälzung der napoleonischen Zeit bis zur Reichsgründung weiter­ verfolgt. Hier in Baden gelang es den Liberalen mit Beginn der »Neuen Ara« im Jahr 1860, erstmals in einem deutschen Einzelstaat zur »regierenden Partei« zu werden und damit das parlamentarische System nach westeuropäischem Vorbild zu verwirklichen. Der badischen Entwicklung kommt daher paradigmatische Bedeutung im Rahmen der Geschichte des deutschen Liberalismus wie des deutschen Bürgertums zu: Das Baden der 1860er Jahre lasst die Reformchancen deutlich werden, die sich hier – anders als etwa in Preussen – unter Führung des liberalen Bürgertums eröffneten, und offenbart zugleich die spezifischen Probleme und Widerstande, auf die die Durchsetzung des liberalen Konzepts der bürgerlichen Gesellschaft unter den spezifischen Bedingungen Mitteleuropas stiess. Einen der Schwerpunkte der Untersuchung bildete eine eingehende Analyse des sogenannten Kulturkampfes, der tiefgreifenden Auseinandersetzung zwischen Staat und liberaler Partei auf der einen sowie Kirche und einer sich neuformierenden katholischen Bewegung auf der anderen Seite. In dessen Verlauf, vor allem in dem Emporkommen einer neuartigen antiliberalen Opposition, spiegelte sich die beginnende Krise, in die das liberale Gesellschaftsmodell im Zuge der seit den 1850er Jahren stürmisch fortschreitenden Industrialisierung zunehmend geriet.

Diese Überlegungen über den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Strukturwandel und politisch-sozialer Entwicklung habe ich im weiteren in einem Beitrag über »Liberalismus und bürgerliche Gesellschaft« ins Allgemeine zu wenden und systematisch zu vertiefen versucht. Das liberale Modell einer sich auf hohem Niveau egalisierenden Gesellschaft materiell selbständiger und geistig unabhängiger Individuen war, so scheint es mir, in hohem Masse durch eine vorindustrielle Lebenswelt, eine Hausvatergesellschaft im traditionellen Sinne geprägt. Der politisch-soziale Erwartungshorizont des frühen Liberalismus, die Zukunftsvision einer »klassenlosen Bürgergesellschaft« musste daher in dem Augenblick in eine tiefe Krise geraten und sich schließlich auflösen, als im Zuge der sogenannten industriellen Revolution immer deutlicher wurde, dass die Entwicklung in eine ganz andere Richtung, hin zu einer drastischen Vermehrung abhängiger und sozial nur höchst unzureichend abgesicherter Existenzen verlief. Diese Thesen sind von der historischen Forschung seither viel diskutiert worden und haben eine ganze Reihe von entsprechend ausgerichteten Untersuchungen angeregt.

Je mehr es bei diesen Erörterungen und Debatten auch um die Frage ging, welche verschiedenen Entwicklungswege in die Moderne der deutschen Gesellschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts, also in der Phase des Durchbruchs der industriellen Revolution und grundlegender sozialer Veränderungen offen standen, desto nachdrücklicher rückte jene Person wieder ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses, die als eigentlicher Gründer des Deutschen Reiches von 1871 und als konservativer Gegenspieler der Liberalen und des liberalen Bürgertums in Staat und Gesellschaft die Weichen in Deutschland in eine bestimmte Richtung gestellt hat. Unabhängig von der unbestreitbaren Faszination, die von der Persönlichkeit wie von der Geschichte der grossen politischen Erfolge des preussischen Ministerpräsidenten und ersten deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck bis heute ausgeht, galt mein eigenes Hauptinteresse dabei dem Versuch einer Neubestimmung seiner Stellung und Bedeutung in der deutschen Geschichte, und zwar aus der Distanz, die sich drei Jahrzehnte nach dem Untergang des von ihm geschaffenen Reiches bei nüchterner Betrachtung zwangsläufig ergab. Das bezeichnet die Hauptrichtung meiner Bismarck-Biographie, die 1980 erstmals erschien. Sie stellte zugleich den Versuch einer durch gängigen Verbindung von Strukturgeschichte und biographischer Darstellung in der Weise dar, dass das Wirken des grossen historischen Individuums stets vor den Hintergrund der allgemeinen Kräfte und Entwicklungstendenzen der Epoche gestellt und aus der Wechselwirkung mit und aus den Abhängigkeiten von ihnen gedeutet wird.

Nach der jahrelangen Beschäftigung mit dem grossen Gegenspieler des liberalen Bürgertums und der von diesem propagierten bürgerlichen Gesellschaft habe ich mich in der Folgezeit wieder vor allem der Erforschung der Geschichte, Struktur und Entwicklung dieses Bürgertums zugewandt. Hier gab und gibt es bis heute eine Fülle von weissen Flecken. Das betrifft insbesondere die Zusammensetzung und den inneren Zusammenhang des Bürgertums als gesellschaftliche Grossgruppe. Während Ausformung und Entwicklung einzelner bürgerlicher Teilgruppen, wie Pfarrer, Arzte, Lehrer und Beamte oder auch Handwerker, in jüngerer Zeit in einer ganzen Reihe von Studien untersucht worden sind, blieben die Vorstellungen vom Bürgertum als einer sozialen Gesamtformation und von den rechtlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Faktoren, die seinen Zusammenhalt ausmachen, eher verschwommen. Zugleich wuchs in der Tradition einer auf den Staat konzentrierten Geschichtsbetrachtung die Neigung, die Ausformung und Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft im modernen Sinne zumal in Mitteleuropa als Ergebnis eines Bündnisses der neuen bildungs-bürgerlichen Eliten mit der staatlichen Reform Bürokratie unter Beteiligung einiger weniger industrieller Unternehmer anzusehen. Sie hatten sich, so eine weitverbreitete These, gegen den Widerstand des städtischen Bürgertums im engeren Sinne und seine rückwärtsgewandten politischen, gesellschaftlichen und auch wirtschaftlichen Neigungen durchgesetzt.

Dies schien mir, gerade auch mit Blick auf die west- und südeuropäische Entwicklung in vieler Hinsicht fragwürdig, jedenfalls einer genaueren Untersuchung wert. Sie habe ich seither in einem mehrparadigmatisch-individuellen und in einem systematischen Zugriff unternommen und vorangetrieben, wobei das systematisch angelegte Vorhaben noch im Gange ist. Am Beispiel einer südwest­ deutschen Familie von Gastwirten, Kaufleuten, Unternehmen und dann auch Rechtsanwälten, Beamten und Künstlern, den vor allem in Mannheim ansässigen Bassermanns, habe ich zunächst Aufstieg, Blüte und Krise des Bürgertums in Deutschland in einer zeitlich und thematisch weiter ausgreifenden Perspektive zu schildern, also eine Familiengeschichte in allgemeiner Absicht zu schreiben versucht. Dieses 1989 erstmals erschienene Buch verfolgt, ähnlich wie schon in ganz anderem Zusammenhang die Bismarck-Biographie, das Ziel, einerseits die Abhängigkeit alles Individuellen von den allgemeinen Verhältnissen, Entwicklungen und Umstanden deutlich zu machen und andererseits zu zeigen, wie dieses Allgemeine stets aus dem Individuellen hervorgeht und zugleich in diesem erst wirklich sichtbar und anschaulich, in einem genaueren Sinne verständlich wird. Von der Basis eines reichen, durch günstige Umstande erhaltenen Quellen­ materials war es möglich, die in vieler Hinsicht beispielhafte Geschichte dieser Familie in drei Jahrhunderten deutscher Geschichte zu rekonstruieren.

Ein entschiedener Perspektivenwechsel, weg von der tief in der deutschen- auch historiographischen – Tradition verankerten etatistischen Sichtweise, hin zur Gesellschaft, speziell zur Stadt als dem genuinen und konstitutiven Lebensraum sowohl des traditionalen als auch des modernen Bürgertums, stand auch am Anfang des erwähnten systematischen Zugriffs auf die Geschichte des Bürgertums. Es handelt sich um ein Forschungsunternehmen, das in Frankfurt am Main unter meiner Leitung seit Anfang 1988 mit Mitteln aus dem mir von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zugesprochenen Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis lauft, eines Preises, der den Preisträger mit einer für die Forschung frei verfügbaren Summe von bis zu drei Millionen Deutschen Mark ausstattet. Im Vergleich der Entwicklung in 16 mitteleuropäischen Städten geht hier eine Gruppe von jüngeren Historikern und Historikerinnen in drei grossen Untersuchung-schritten der Rolle des städtischen Bürgertums in dem säkularen Modernisierungsprozess nach, der seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts Staat, Wirtschaft und Gesellschaft nicht nur in Deutschland von Grund auf veränderte.

Zunächst galt es, Grundlagenarbeit zu leisten und dabei vor allem jene Teilgruppen der städtischen Gesellschaft quantitativ abzugrenzen und in ihrer wirtschaftlichen und sozialen Stellung naher-zu bestimmen, die sich im engeren Sinne zum bürgerlichen Spektrum rechnen lassen. In einem zweiten Schritt mussten die politischen und gesellschaftlichen Aktivitäten des städtischen Bürgertums, vor allem seine Mandate in der kommunalen Selbstverwaltung und in wirtschaftlichen Interessenvertretungen, seine Ehrenämter in Kirchen und Stiftungen sowie seine zahlreichen Vereinsmitgliedschaften, im einzelnen erfasst werden. Und zum dritten waren genauere biographische Informationen über die jeweiligen staatsbürgerlichen Eliten zu sammeln, jenen relativ kleinen Personenkreis, der sich durch seine besonders zahlreichen und gewichtigen öffentlichen Ämter und Mitgliedschaften von der breiten Mehrheit der Bürgerschaft deutlich abhob.

Erste Ergebnisse konnten zunächst 1991 in dem von mir herausgegebenen Sammelband »Vom alten zum neuen Bürgertum« für die Phase des Umbruchs zwischen 1780 und 1820 vorgelegt werden. Die einzelnen, jeweils stadtbezogenen Beitrage machten deutlich, dass sich in fast allen Städten in dieser Zeit ein tiefgehender sozialer Strukturwandel der Führungsschicht vollzog. Meist löste nun eine Gruppe politisch und gesellschaftlich höchst aktiver Kaufleute die mehr oder minder erstarrten Ratseliten ab, eine Gruppe, die mehrheitlich sozialen und ökonomischen Modernisierungsimpulsen höchst aufgeschlossen gegenüberstand und vielfach auch politisch eigenständige Reformkonzepte entwickelte. Mit beidem geriet sie nicht selten in Konflikt mit den staatlichen Reformvorstellungen, die in erster Linie auf die Stärkung einer mehr oder minder autoritär ausgerichteten Staatsmacht zielten.

Eine weitere Zwischenbilanz, die auf eine im Frühjahr 1992 veranstaltete Tagung mit einem Kreis von ausgewiesenen Kennern der Stadt- und Bürgertumsforschung zurückgeht und vor allem auch die Art des methodischen Zugriffs und die Schwerpunkte der Untersuchungen darlegt, ist soeben erschienen.

Monographien über die im Rahmen des Projekts untersuchten Städte liegen in einigen Fällen bereits in Manuskriptform vor und können in Kürze in den Druck gehen. Wenn diese Einzeluntersuchungen erst einmal abgeschlossen sind, wird es im weiteren vor allem darauf ankommen, das in weitgehend gleichartiger Form für die verschiedenen Städte erhobene Material und die relativ eng abgestimmten Auswertungsergebnisse zusammenzufassen und vergleichend zu analysieren.

Natürlich beruht Forschung im Bereich der Geistes-, der Kulturwissenschaften – auch wenn sie in übergreifende Projekte eingebunden ist – immer auf einer Mischung vieler verschiedener und verschiedenartiger Ansätze, Einzel­ schritte und Teilergebnisse, die sich in manchem ergänzen und zusammenfügen lassen, mitunter aber auch gegenseitig zu widerlegen scheinen. Wird sie doch von Individuen, von selbständigen Forscherpersönlichkeiten an niemals ganz gleichartigen, geschweige denn gleichen Objekten betrieben. Das Besondere und in der Geschichtswissenschaft in dieser Form noch Unerprobte bei dem von mir geleiteten Forschungsprojekt war jedoch der Gedanke, alle Teilforschungen von vornherein durch gemeinsame Fragestellungen und Arbeitsmethoden so eng miteinander zu verzahnen, dass jedes Einzelergebnis stets im Kontext und im Vergleich mit den parallel gewonnenen Erkenntnissen reflektiert, diskutiert und formuliert werden konnte. So liess beispielsweise die gleichzeitige Erforschung jeweils mehrerer Handels-, Residenz-, Gewerbe-, Industrie- und Universitätsstädte schon bald Aussagen übergreifender Art zu, indem sich zunächst Städte­ typen und im weiteren Verlauf für sie typische Formen der Zusammensetzung und Hierarchiebildung des jeweiligen Stadtbürgertums herauskristallisierten. Durch das schrittweise Transzendieren des lokalen Zusammenhanges, des Spezifisch-Individuellen einer einzelnen Stadt und ihrer Burgergesellschaft wuchsen die Einsicht und das Wissen über den Grundcharakter der Sozialformation »Bürgertum« – eine umfassende Synthese, eine allgemeine Bürgertumsgeschichte erscheint von daher in näherer Zukunft möglich. Dank des gezielten Einsatzes moderner Datenverarbeitungs-Techniken entstand im Übrigen, als Beiprodukt eines solchen Grossprojektes, eine reiche, vielseitig verwendbare Fülle von Einzelinformationen. Dieses umfangreiche Datenmaterial vermag die Grundlage zu bilden für weitere Untersuchungen auf vielen Gebieten der modernen Gesellschaftsgeschichte. Es kann zugleich als Anreiz dienen, ganz neuen Fragen nach­ zugehen und die Erforschung der historischen Wurzeln unserer Gesellschaft unter den verschiedensten Gesichtspunkten voranzutreiben.

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