Deutschland

Lothar Gall

Balzan Preis 1993 für Geschichte: Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts

Lothar Gall, der mit sorgfältiger Quellenforschung, souveräner sozialhistorischer Analyse und faszinierender Erzählkunst Aufstieg und Krise des deutschen Bürgertums im Rahmen der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts lebendig macht und damit einen vielversprechenden neuen Weg der modernen Gesellschaftsgeschichte beschreitet.

Mit ihrem Preis ehrt die Balzan-Stiftung einen Historiker, der die gesellschaftliche Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts nicht nur eingehend und unablässig erforscht, sondern auch in packender Erzählkunst zur Darstellung bringt. Das Hauptinteresse Galls gilt dem 19. Jahrhundert, beginnend mit dem politischen Liberalismus Westeuropas und Deutschlands. 1963 veröffentlichte er ein vielbeachtetes Buch über die politische Ideenwelt Benjamin Constants und gab 1970/71 dessen Schriften in vier Binden mit Kommentar heraus. Sein Buch über das liberale Musterland Baden in der zweiten Hiilfte des 19. Jahrhunderts (1968) wurde zum Standardwerk. Seme intime Kenntnis des europäischen Liberalismus kommt auch in den 1976 und 1981 veröffentlichten Textsammlungen zum Ausdruck. International bekannt wurde Gall 1980 durch seine Bismarckbiographie, die ins Englische, Französische, Italienische, Japanische übersetzt wurde und bereits in 7. Auflage vorliegt. Das Buch ist ein Meisterwerk der politischen Biographie. Es setzt ganz auf die Rekonstruktion des politischen Kalküls im Rahmen der die Zeit bestimmenden Interessen und zeigt Bismarck als genialen Jongleur mit den Kräften des Alten und des Neuen.

Seine Untersuchungen zum europäischen Liberalismus und Bürgertum des 19. Jahrhunderts führten Gall zu vielfachen weiteren Publikationen und Sammelbänden. Immer stand dabei die Kernfrage im Vordergrund: Was macht das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft aus, wie verzahnen sich Sozial-, Wirtschafts- und politische Geschichte mit der Geistes- und Kulturgeschichte, wie wirken Bürgertum und Industrialisierung beflügelnd, aber letztlich das Bürgertum schwächend, aufeinander? Seit 1987 hat Gall ein grosses sozialgeschichthches, statistisch abgesichertes Forschungsprogramm über die bürgerlichen Eliten in ausgewählten Städten aufgebaut, von dem erste Ergebnisse im 1991 erschienenen Sammelwerk “Vom alten zum neuen Biirgertum. Die mitteleuropiische Stadt im Umbruch 1780-1820” vorliegen und weitere Bände im Druck sind.

Galls Forschungen zur modernen Gesellschaftsentwicklung fanden ihren bisherigen Höhepunkt in seinem 1989 erschienenen Buch “Bürgertum in Deutschland”. Es handelt sich um eine für das deutsche Bürgertum des 19. und 20. Jahrhunderts exemplarisch gedachte Geschichte der Mannheimer Familie Bassermann. Gall schildert mit charakteristischen Details den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg einer Bauern- und Kleinhändlerfamilie des 17. und 18. Jahrhunderts in das deutsche Grossbürgertum des 19. und 20. Jahrhunderts mit ihren Verzweigungen in Wirtschaft und Politik, Kultur und Kunst bis hin zum weltberühmten, 1952 verstorbenen Schauspieler Albert Bassermann. Dabei hält der Verfasser immer wieder reflektierend inne und verzahnt die “Geschichten” mit der auf das Typische zielenden Ebene der “Geschichte”. Die in der gegenwärtigen Geschichtsforschung geforderte Rückkehr zur wissenschaftlich unterbauten Erzählkunst ist hier in beispielhafter Weise verwirklicht, ebenso die damit verbundene Relativierung des Strukturalismus: Das menschliche Individuum erscheint nicht nur als Objekt, sondern auch als mitgestaltendes Subjekt wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Strukturen.

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